Woher der Antisemitismus unter Muslimen kommt

(c) Peter Kufner
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Die islamische Welt muss sich der schmerzvollen Auseinandersetzung mit der antijüdischen Tradition ebenso stellen wie die Kirchen.

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Eine neue Studie weist Österreichs Bevölkerung einen „Kernbodensatz“ von zehn Prozent manifester antisemitischer Einstellung nach. Weitere 29 Prozent vertreten latente antisemitische Einstellungen. Antisemitismus unter Türkisch und Arabisch Sprechenden sei dabei signifikant weiter verbreitet als in der Gesamtbevölkerung. Die 2016 durchgeführte Studie der Stadt Wien mit Jugendlichen in der offenen Jugendarbeit hatte bei 47 Prozent der Jugendlichen aus muslimischen Familien antisemitische Einstellungen festgestellt, Jugendliche aus christlich-orthodoxen Familien teilten solche zu 27, aus katholischen zu sieben Prozent.

Die Islamverbände leugnen einen Zusammenhang zwischen Islam und Judenfeindschaft. Die Muslimische Jugend Österreichs etwa erklärte bei der Vorstellung ihres Projekts „MuslimInnen gegen Antisemitismus“: „Für uns gibt es keinen islamischen Antisemitismus, sondern einen islamisierten völkischen“. Dieser sei eine „Verdichtung der unterschiedlichen Erscheinungsformen des europäischen Antisemitismus“. Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands teilt diese Sicht. Mitarbeiter Andreas Peham präferiert den Begriff „islamisierter Antisemitismus“, denn dieser weise auf die „fehlenden Ursprünge in der Religion“ hin. Der Soziologe Kenan Güngör spricht von einem „reimportierten Antisemitismus“.

Feindschaft, religiös begründet

Anders als in früheren Studien über christliche Judenfeindschaft, wie sie etwa Friedrich Heer, Erika Weinzierl oder Gerhard Czermak vorgelegt haben, wird eine durch die Jahrhunderte tradierte religiös begründete Judenfeindschaft im islamischen Kontext ausgeschlossen. Leichtfertig wird der europäische Antisemitismus zur eigentlichen Ursache von Antisemitismus unter Muslimen erklärt.

Ein Blick auf die literarische islamische Überlieferung von Koran, Sunna und Prophetenbiografie bringt jedoch eine eigenständige judenfeindliche Tradition zum Vorschein, etwa die Erzählung über die drei jüdischen Stämme in Medina: Weil sie mit den Feinden Mohammeds kollaboriert hätten, habe er die Vertreibung zweier Stämme befohlen, die Männer des dritten seien liquidiert, Frauen und Kinder in die Sklaverei geführt worden.

Im Koran finden sich viele weitere Beschuldigungen gegenüber Juden: Sie brachen den Bund mit Gott, töteten ihre Propheten, begingen Verrat, wurden vertragsbrüchig und brachten andere um ihr Geld. In der Überlieferung werden also Stereotype sichtbar, die als genuin islamisch angesehen werden dürfen. Betrachtet man jene Koranverse, die sich ausdrücklich mit Juden oder Christen befassen, fällt auf, dass Juden wesentlich häufiger und deutlich abschätziger erwähnt werden.

Die Geschichte der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Stämme und die antijüdischen Koranzitate gehören zum antijüdischen Repertoire, das in Koranschulen und im Religionsunterricht islamischer Länder gelehrt wird. In der islamischen Welt bestimmte die Stellung der Juden als Dhimmis jahrhundertelang ihr Dasein. Das euphemistisch als „Schutzvertrag“ bezeichnete Sonderrecht gewährte ihnen und anderen Anhängern einer Buchreligion eine gewisse Sicherheit in Bezug auf Leben, Eigentum und Religion, diese musste jedoch mit einer Kopfsteuer erkauft werden, die bis ins 19. Jahrhundert hinein erhoben wurde. Das Sonderrecht legte Dhimmis demütigende Regeln auf. Bei Bedarf mussten sie etwa Muslimen den Sitzplatz überlassen, hatten als Erste zu grüßen. Für sie galten besondere Kleidervorschriften, und ihre Häuser mussten niedriger sein als die ihrer muslimischen Nachbarn.

Es liegt auf der Hand, dass eine über Jahrhunderte gesetzlich legitimierte Diskriminierung und alltägliche Herabsetzung Auswirkungen auf das Bild von Juden in der Gesellschaft hat. Diese Geschichte prägt, da sie nie aufgearbeitet wurde, die Sicht auf Juden bis heute.

Christlicher Antijudaismus

Der moderne europäische Antisemitismus ist nicht ohne religiöse Judenfeindschaft und die Wahrnehmung der Juden als besondere, dem Christentum feindliche Gruppe denkbar. Diese alte Judenfeindschaft brachte Antisemiten des 19. und 20. Jahrhunderts erst auf die Idee, Juden zu Sündenböcken zu machen. Es waren, wie Friedrich Heer einmal bemerkte, frühe kirchliche Autoritäten, wie Chrysostomos, Hieronymos und Augustinus, die jenes Bild des Juden geprägt haben, das dann für eineinhalb Jahrtausende in Krisensituationen und Umbruchszeiten seine Wirkung entfaltete.

So, wie man daher von einer originär christlichen Judenfeindschaft spricht, lässt sich auch im Islam die historische Entwicklung einer eigenen Judenfeindschaft nachweisen, die dann im 19. Jahrhundert passende Elemente des europäischen Antisemitismus aufnehmen konnte. Beispielhaft für den Rückgriff auf diese islamische Tradition sei Sayyid Qutb, ein Theoretiker der Muslimbruderschaft aus den 1950er-Jahren, zitiert: „Die Juden von heute gleichen ihren Ahnen zur Zeit Mohammeds: Sie zeigen Feindseligkeit, seitdem der Staat von Medina gegründet wurde. Sie verübten Anschläge gegen die Gemeinschaft der Muslime vom ersten Tag an, an dem diese sich bildete.“

Muslimen steht ein ähnlich schmerzhafter Prozess der Überprüfung des Eigenen bevor, wie ihn die Kirchen und ihre Anhänger durchmachen mussten. Dazu gehört, Rechenschaft abzulegen und islamische Eroberungs- und Herrschaftsgeschichte nicht ständig zu glorifizieren. Dazu würde auch eine Entschuldigung gehören, wie sie etwa vonseiten der katholischen Kirche gegenüber Juden durch das II. Vatikanische Konzil erfolgte. In dieser wurden „Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus“ und deren Begründung durch eine antijüdische Theologie bedauert.

In der islamischen Welt ist eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bis heute kaum möglich. Jede Kritik am Islam und seiner Geschichte wird als Verrat betrachtet. Diese fehlende Selbstkritik lässt keinen offenen Diskurs zu und macht Initiativen des interreligiösen Dialogs und solche gegen Antisemitismus oft ebenso schwerfällig wie oberflächlich. Solange die jahrhundertelange Abwertung von und Feindschaft gegenüber Juden im Islam selbst virulent bleiben, geht davon eine Gefahr für Juden aus. Wie jegliche Ressentiments gegenüber Gruppen von Menschen – ganz gleich von welcher Seite und gegen wen sie gepflegt werden – gefährden diese Einstellungen das friedliche Zusammenleben in der pluralistischen Gesellschaft. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob einige muslimische Initiativen den Mut besitzen, sich aus dem Korsett des Verbots der Kritik am Islam zu befreien und zu einem ernst gemeinten Projekt der Aufklärung zu werden.

Die Autorin

Nina Scholz ist Politikwissenschaftlerin und Autorin. Forschungen und Publikationen zu Nationalsozialismus und Antisemitismus und zum Themenkomplex Europa, Menschenrechte und Islam. Die Autorin spricht am 25. April mit ihrem Koautor Heiko Heinisch über ihr gemeinsames Buch „Alles für Allah“ im Kinosaal des Kulturcafés Zum Kuckuck in Amstetten, 19.30 h.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2019)

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