So brachial wie Jelinek, aber besser gelaunt

Die unwirkliche Atmosphäre der körnigen Schmalfilm-Ästhetik ist wie gemacht für Jelineks Verquickung von Horror- und Heimatmotiven.
Die unwirkliche Atmosphäre der körnigen Schmalfilm-Ästhetik ist wie gemacht für Jelineks Verquickung von Horror- und Heimatmotiven.(C) Stadtkino Wien
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Elfriede Jelineks Hauptwerk „Die Kinder der Toten“ startet in den Kinos: eine bewusst saloppe Satire, die formal aus allen Rahmen fällt. Die Regisseure haben Jelineks Buch übrigens nicht gelesen.

Sie interessieren sich für den Elfriede-Jelinek-Film „Die Kinder der Toten“, haben aber keine Lust, sich zur Vorbereitung durch sämtliche 666 Seiten der Vorlage zu schmökern? Kein Grund für schlechtes Gewissen: Kelly Copper und Pavol Liska, die Regisseure der am Freitag in heimischen Kinos anlaufenden Adaption, haben Jelineks Opus magnum auch nicht gelesen. Wie? Was? Kann man da denn überhaupt von einer Verfilmung sprechen? Man kann. Zumal bei einem Werk, das angesichts seiner formalen Dichte und Komplexität als unverfilmbar gilt. Klar: Eine „Klavierspielerin“ à la Haneke bekommt man so nicht heraus. Aber es muss ja nicht alles nach Cannes.

Und im Grunde ist ein freier Zugang die einzige Möglichkeit, den wilden Wortwucherungen und -verwesungen eines Monumentalromans wie „Die Kinder der Toten“ einigermaßen gerecht zu werden. Mit zwanglosen Aneignungen von (Sprach-)Material haben Copper und Liska Erfahrung. Als Nature Theater of Oklahoma machen sie schon seit 1996 Weltbühnen unsicher – anfangs in der New Yorker Off-Szene, mittlerweile vor allem auf europäischem Boden.

Der Roman als Stummfilm

2009 verblüffte ihr Experimentalstück „Life And Times“ im Burg-Kasino: Ein 16-stündiges Lebensrevue-Telefongespräch wurde darin inklusive aller Ähms und Öhms zum Libretto eines wunderlichen Musicals umfunktioniert. 2015 radelten die Kreativpartner für ihr Projekt „Nibelungen Cycle“ durch abgelegenes Rheinland und fabrizierten zusammen mit Ortsansässigen Filmfassungen des Ring-Zyklus im Geiste von Fritz Lang.

Ähnlich der Ursprung ihrer herzhaften Jelinek-Verwurstung: Entstanden ist „Die Kinder der Toten“ beim Steirischen Herbst 2017 – damals noch unter der Intendanz der nunmehrigen Wiener Kulturstadträtin, Veronica Kaup-Hasler – mit Laiendarstellern aus der Region. Die Dreharbeiten rund um Neuberg an der Mürz (das Geburtshaus der Nobelpreisträgerin war nicht weit entfernt) wurden als großes Mitmach-Event zelebriert, beim Skript stützten sich Copper und Liska auf qualifizierte Nacherzählungen ausgewählter Handlungspartikel.

Das von der Ulrich-Seidl-Filmproduktion betreute Endresultat, das im Februar bei der Berlinale Premiere feierte, fällt auf erfreuliche Weise aus dem Rahmen zeitgenössischer Leinwandnormalität. Statt sich in Rezitationen zu ergehen, schlüpft der Film ins Stummfilmkleid, nur periodische Zwischentitel liefern pointierte Texthäppchen. Gedreht wurde mit Super-8-Kameras, das verstärkt den Verfremdungseffekt.

Die unwirkliche Atmosphäre der körnigen Schmalfilm-Ästhetik ist wie gemacht für Jelineks Verquickung von Horror- und Heimatmotiven. Da zottelt eine Kuhherde durch nebelverhangene Alpenlandschaft, ein Kleinwagen schlängelt sich einsame Straßen hinunter. Doch kaum wechselt das Geschehen ins Wirtshaus Alpenrose, wo das Schnitzel mit der Faust geklopft wird und sich Gäste Palatschinken ins Gesicht klatschen, als wären sie Leatherface aus „Blutgericht in Texas“, verwandelt sich der Film in eine gut gelaunte Alles-geht-Groteske.

Hier liefern sich verbitterte Mütter und widerspenstige Töchter Bratfischwatschen-Duelle. Hier werden Flüchtlingsdichter scheel beäugt, weil sie „Styrian“ mit „Syrian“ verwechseln – und verhelfen einem suizidalen Förster zur Katharsis. Hier geht es nach einem Busunglück ans Eingemachte, als sich die Sphären der Lebenden und der Toten (in Anlehnung an Jelineks Lieblingshorrorfilm „Carnival of Souls“) ineinander verbeißen – und hirnhungrige „Zombs“ (sic), Täter wie Opfer heimischer Gewaltgeschichte, die Ortschaft überfluten.

Bezirksfaschingsstimmung

Die Inszenierung bleibt betont amateurhaft. Als lustvolles, sukzessive eskalierendes B- und Home-Movie-Schmierentheater mit Hang zum surrealen Melodram will „Die Kinder der Toten“ ein Volksstück im besten Sinne sein. In der saloppen Spielfreude bündeln sich seine Stärken und Schwächen. Denn obwohl der Film das österreichische Selbstbild genüsslich durch den brachialsatirischen Fleischwolf dreht, raubt ihm seine Bezirksfaschingsstimmung viel Biss. Verglichen mit einer durchaus artverwandten, Genre- und Kulturschubladen berstenden Frontalattacke wie Christoph Schlingensiefs „Das deutsche Kettensägenmassaker“ fehlt es diesem sympathischen Seelenkarneval an Dringlichkeit. Politisch bleibt er eher unspezifisch – und läuft sich irgendwann tot.

Aber eine Reihe beizender Momente birgt er allemal: Etwa wenn ein holländischer Touri eine darbende Syrerin mit Kartoffelchips reanimieren will. Oder wenn sich die Dorfgemeinschaft im geheimen Lichtspielhaus bei einer Gedächtnisbildershow zu Tode tränt. Am oft trostlosen Firmament der Kinogegenwart nimmt sich diese filmische Seltsamkeit ohnehin aus wie eine betörende Sternschnuppe. Und wo sie verblasst, hilft der eindringliche Soundtrack von Matz Müller und Wolfgang Mitterer: eine unablässig mutierende Klangwolken-Collage aus Nebelhörnern, Trauermärschen, Jazz-Geklapper und Geräuschgeflüster aller Art. Zu diesen Klängen tanzen Tote gern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2019)

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