Chat-Roulette: Das Anti-Facebook

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AntiFacebook(c) FABRY Clemens
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Webcam einschalten, und per Zufallsgenerator ist man sofort mit irgendeinem Fremden verbunden, der ebenfalls vor der Kamera sitzt. Die Neugierde, was dann passiert, lockt Millionen zu Chat-Roulette.

Seit mehr als einem Jahrzehnt wird versucht, Ordnung ins Internet zu bringen. Chat-Roulette ist das genaue Gegenteil. Soziales Chaos. Ein Zufallsgenerator für Bekanntschaften, die oft nur Sekundenbruchteile dauern. Computer einschalten, Webcam aktivieren – und schon wird man mit jemandem verbunden, der gerade dasselbe getan hat. Ein kurzer Augenblick entscheidet über Sympathie oder Antipathie. Klar lockt das viele Exhibitionisten, Freaks und Spinner an. Die meisten sind aber einfach nur neugierig, viele sogar kreativ. Es kommt nicht selten vor, dass der zufällige „Partner“ ein spontanes Ständchen zum Besten gibt oder man gleich mit einer ganzen Band verbunden wird. Einige zeichnen, flirten, schneiden Grimassen oder tanzen. Gefällt das Gegenüber nicht, genügt ein Mausklick, und man wird sofort mit der nächsten Kamera verbunden. Die unvermittelte Zurückweisung ist manchmal irritierend, vor allem, wenn man einige Male hintereinander einfach „weggeklickt“ wird. Kommentarlos. Weil man zu alt (der Durchschnitt liegt wohl irgendwo zwischen 15 und 25 Jahren), zu dick, zu dünn, zu angezogen, zu nackt ist oder das falsche Geschlecht hat.

Selten eine zweite Chance

Chat-Roulette ist das Gegenteil von Facebook. Genauso schnell, wie ein „Freund“ gewonnen ist, ist er auch wieder weg. Man erfährt gerade so viel über den anderen, wie verraten wird. Nicht selten vergisst man sogar nach dem Namen zu fragen. Am häufigsten wollen Chat-Roulette-Spieler wissen, woher der Zufallspartner kommt. Ist das Treffen beendet, gibt es kein Zurück mehr. Keine Möglichkeit wie auf Facebook, ein Profil erneut aufzurufen. Manchmal wird man vom Zufallsgenerator an demselben Abend ein zweites Mal mit derselben Person verbunden. Dass das am nächsten Tag oder nach einer Woche noch einmal passiert, ist unwahrscheinlich.

Firmenzentrale Kinderzimmer

Chat-Roulette ist ein junges Internet-Start-up. Vor gerade einmal sechs Monaten ging das Spiel online. Schon im ersten Monat, im November 2009, lockte Gründer Andrej Ternovskij damit 500 Nutzer an. Heute sind es bald zwei Millionen Menschen weltweit, die monatlich den Zufallsgenerator bedienen und einen kurzen Blick in fremde Wohnzimmer, Schlafzimmer und Büros werfen.

„Chat-Roulette wird in allen Ländern verwendet“, erklärte Ternovskij in einem Interview mit dem „Spiegel“. Anders, als man vermuten würde, kommt nur ein Drittel der Spieler aus den USA. Ternovskij selbst lebt in Russland. Der 17-jährige Schüler hat sich das Startkapital – 10.000 Euro – von seinen Eltern geborgt. Sein Kinderzimmer ist die Firmenzentrale. Die vier Mitarbeiter sitzen in den USA und Weißrussland – Ternovskij hat sie im Internet kennengelernt.

Geldbringer „Dating“

Als Mädchen hat man deutlich bessere Chancen auf eine längeres digitales „Beschnuppern“ – die meisten Nutzer sind nämlich Männer. Vielleicht ist auch das der Grund dafür, dass ein einziger unscheinbarer Werbelink auf der Website für den Umsatz bei Chat-Roulette sorgt. Neben den wenigen Steuerelementen auf der Website ist zu lesen: „Dating (ad)“. Der Hype um das „Anti-Facebook“ hat auch bereits große Investoren wie Google angelockt. Selbst der Video-Chat-Riese Skype hat angeblich bereits angeklopft. Skype hat den jungen Gründer damals auch auf die Idee mit dem Zufalls-Chat gebracht. Verkaufen will er nicht. Lieber die Firma selbst in die USA verlegen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2010)

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