Warum Algeriens Protestbewegung erfolgreich sein könnte: Autor Kamel Daoud über die Unterschiede zu Ägypten und Syrien – und darüber, warum seine Landsleute so viel über die wahre Natur der Islamisten wissen.
Geschichten des Jahres. Dieses Interview ist am 5. April 2019 erschienen.
Die Presse: Ein todkranker Greis, der sich in seinen Heldentaten aus der Zeit vor der Revolution ergeht und seine Familie in einer trostlosen Unmündigkeit gefangen hält: Es fällt schwer, Ihren Roman „Zabor“ nicht als Allegorie auf Algerien unter Abdelaziz Bouteflika zu lesen.
Kamel Daoud: Zweifellos liest man einen Autor stets im Licht seiner Herkunft, seiner Kultur, seiner Geografie. Aber die Literatur geht über die Herkunft eines Schriftstellers hinaus. Dieses Buch kann man als Allegorie auf das Algerien der letzten Jahre sehen, aber ich schwöre Ihnen, daran habe ich nicht gedacht, als ich es schrieb. Es ist wie mit den Träumen: Sie haben einen Bezug zu Ihrem realen Leben, aber Sie haben keinen Einfluss auf sie. Das Imaginäre in der Literatur ist autonom. Wenn man es zwingen will, verkümmert es und schafft einen Roman nach sowjetischer Manier. Dieser hat eine Botschaft, aber keinerlei literarischen Wert. Aber Ihre Lesart ist zulässig: die Politik in Algerien, eine Gerontokratie, die ein sehr junges Volk regiert; die alte Generation der Unabhängigkeitskämpfer, die keine Kinder haben will, sondern ihre Kinder umbringt . . .
. . . oder sie mangels Perspektiven nach Europa verjagt.
Das ist eine Weise, sie umzubringen. Algeriens Tragödie ist nicht allein politisch. Sie ist gleichsam philosophisch.