Merkel und Macron planen eine kontrollierte Ausweitung der Austrittsfrist. London müsste in diesem Fall an der Europawahl teilnehmen, doch soll sichergestellt werden, dass die Briten in dieser Zeit die EU nicht mehr lähmen.
Berlin/Wien. Einen Tag vor dem Sondergipfel zum Brexit legten sich die meisten Staats- und Regierungschefs der EU darauf fest, einen harten Austritt Großbritanniens in jedem Fall zu vermeiden. Die EU will Großbritannien offenbar eine flexible Brexit-Fristverlängerung anbieten. In einem Entwurf für den EU-Sondergipfel am Mittwoch ist zugleich ein Sicherheitsmechanismus eingebaut, für den Fall, dass Großbritannien nicht an den Europawahlen teilnimmt. Dann droht London am 1. Juni der Hinauswurf aus der EU.
Während Bundeskanzler Sebastian Kurz noch Vorbehalte gegen eine neuerliche Teilnahme Großbritanniens an der Europawahl äußerte, hat ein Vorschlag von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wachsende Chancen auf Realisierung. Er will London laut mehreren Quellen eine Frist bis etwa zum Jahresende samt Teilnahme an der EU-Wahl gewähren. Allerdings müsste sich die britische Regierung im Gegenzug verpflichten, die EU in diesen Monaten nicht zu lähmen.
In diese Frist würde unter anderem die Verhandlung über den kommenden Budgetrahmen der Gemeinschaft fallen. Auch stehen neue Handelsabkommen und die Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten an. Großbritanniens Premierministerin Theresa May hat am Dienstag in Berlin und Paris für eine Fristverlängerung geworben. Bereits am Vorabend hatte sie mit Bundeskanzler Kurz sowie weiteren EU-Amtskollegen telefoniert. Sie strebte das Enddatum 30. Juni an, wollte aber auch eine Teilnahme an der Europawahl nicht mehr ausschließen.
Nächste Panne in Berlin
In Berlin stand sie mit ihren Wünschen allerdings vorerst allein da. May schritt einsam über den roten Teppich vor dem Kanzleramt, bis ihr schließlich Angela Merkel mit Verzögerung und ausgestreckten Armen entgegensteuerte. Die kleine Panne fügt sich ins große Brexit-Chaos. Schon im Dezember ging bei Mays Besuch in Berlin einiges schief, damals klemmte die Tür ihrer Limousine.
Merkel hält eine Verschiebung des Brexits bis Ende 2019 oder Anfang 2020 für möglich. Beim EU-Sondergipfel am Mittwoch werde es um eine flexible Erweiterung ("Flextension") des Austrittstermins gehen, sagte die Kanzlerin am Dienstag nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur von Teilnehmern in einer Sitzung der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag.
Die krisenerprobte deutsche Kanzlerin zeigte sich zuletzt geduldiger mit den Briten als Frankreichs Präsident Macron. Das mag auch daran liegen, dass die Angst vor einem No-Deal-Szenario in Berlin noch größer ist als in Paris – Großbritannien ist Deutschlands fünftwichtigster Exportmarkt. „Wir wollen bis zur letzten Stunde alles tun, um einen ungeregelten Austritt Großbritanniens abzuwenden“, lautet das Credo der Kanzlerin. Ihr Regierungssprecher, Steffen Seibert, strich zugleich die Bedeutung der „Einheit der EU-27“ hervor. Auseinanderdividieren, so die Botschaft, lasse man sich nicht. Was Merkel in dem vertraulichen Gespräch gegenüber May erklärte, war daher wohl mit Macron abgestimmt, dessen Élysée-Palast noch am selben Abend auf Mays „Betteltour“ (Spiegel Online) lag.
May habe in dem Gespräch mit Merkel skizziert, wie sie den Brexit-Prozess zu einem „erfolgreichen Ende“ bringen wolle, teilte eine Sprecherin der Premierministerin mit. Sie habe die Kanzlerin auch „upgedated“, was die fortlaufenden Brexit-Gespräche mit Jeremy Corbyns Labour-Partei angeht.
Ähnlich dürfte die britische Premierministerin auch beim heutigen EU-Sondergipfel argumentieren, der am Abend in Brüssel angesetzt ist: Sie brauche Zeit, um eine Einigung mit Oppositionschef Jeremy Corbyn zu finden und damit das Austrittsabkommen doch noch durch das Parlament zu bringen. Die Verhandlungen mit dem Labour-Chef, in denen es unter anderem um eine mögliche Festlegung auf eine Zollunion und um eine Absicherung von Arbeitsplätzen geht, wurden auch am Dienstag von May-Vertrauten fortgesetzt. Laut dem britischen Justizminister, David Gauke, seien die Gespräche bisher „konstruktiv“ verlaufen. Als Alternative wurde in London auch über ein mögliches zweites Referendum spekuliert, das von einer Mehrheit der Labour-Abgeordneten befürwortet wird.
EU-Chefverhandler Michel Barnier wies darauf hin, dass der Austrittsvertrag auch im Fall einer Einigung in London nicht aufgeschnürt werden könne. Sollten sich Tories und Labour in London über eine Zollunion mit der EU verständigen, wäre es aber möglich, dies als gemeinsames Ziel in der politischen Erklärung einzuarbeiten, die dem Abkommen beiliegt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2019)