Der frühere ÖVP-Obmann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner warnt vor der „populistischen Ideologie“ seiner eigenen Partei: Man dürfe nicht wegsehen, wenn Grenzen überschritten werden.
Wien. Nein, das Buch sei keine Abrechnung mit seiner Partei, hat der frühere ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner im Jänner gesagt. Am Mittwoch wird sein autobiografisches Werk mit dem Titel „Haltung“, das er mithilfe von „Falter“-Redakteurin Barbara Tóth verfasst hat, präsentiert. Ausschnitte aus dem E-Book sind bereits öffentlich zugänglich. Und die zeigen: Reinhold Mitterlehner äußert scharfe Kritik an seinem Nachfolger Sebastian Kurz.
Dass dessen Kurs erfolgreich ist, daran zweifelt Mitterlehner nicht. Aber er fragt: Sind positive Umfragen wirklich der ausschließliche Maßstab für die Qualität der Politik? „Die Begeisterung darüber, den Kanzler zu stellen, befreit nicht davon, sich mit dem auseinanderzusetzen, was inhaltlich geschehen ist.“
Geschehen sei viel in Richtung Rechtspopulismus, meint der Ex-ÖVP-Obmann, der das für keine gute Entwicklung hält: „Populismus als Ideologie verlangt immer nach Gegnern, nach Reibungsflächen, sonst fehlt die Identifikationsmöglichkeit für die eigenen Anhänger. Da habe ich dann neben den echten Österreichern noch die anderen, die Migranten, die Arbeitsunwilligen, die Caritas, die Spätaufsteher, die nicht so dazugehören, die man kritisiert, stigmatisiert.“ Die Folge: Die Betroffenen würden sich ausgegrenzt fühlen.
„Ergebnismarketing“
Scharfe Kritik übt er auch an der Umsetzung der Politik: Das Parlament spiele keine große Rolle mehr, alles komme „von oben“ in den Nationalrat. „Man kann diese Art das Regierens auch Ergebnismarketing nennen, es handelt sich dabei um Entscheidungen ohne wirkliche Partizipation. All das wird als neuer Stil verkauft, und das ist es auch. Aber ist es ein guter demokratischer Stil?“
Außerdem gebe es offensichtlich auch ein Problem mit Meinungsvielfalt und Diskussionskultur. Kaum jemand traue sich noch, etwas Kritisches zu sagen. Das sei eine Frage des Muts geworden. „Meistens reden nur die, die nichts mehr zu verlieren haben.“
All dies seien Entwicklungen in unserer Demokratie, die uns aufrütteln sollten, eben nicht zu schweigen, auch wenn es bequemer erscheint, so Mitterlehner. „All das sind Warnsignale, die uns verpflichten, nicht wegzusehen, wenn Grenzen überschritten werden. Demokratie heißt nicht zentrale Führung, Demokratie lebt von freier Meinung, Partizipation und der Vielfalt in der Gesellschaft.“
Für die Sozialpartnerschaft
In noch einem Bereich zieht der ehemalige Vizekanzler einen klaren Trennstrich zur derzeitigen ÖVP-Führung: Mitterlehner deklariert sich als Anhänger der Sozialpartnerschaft. In einer pluralistischen Gesellschaft könne es nicht auf Dauer funktionieren, wenn sich eine Gruppe ungefiltert mit ihren Interessen durchsetzt. Eine sozial ausgeglichene Gesellschaft brauche das Austarieren und Lösen von Konflikten, nicht die bewegungslose Pattstellung, sondern den weiterführenden Kompromiss.
Das habe eine integrative Entwicklung der Gesellschaft gewährleistet, aber auch diese gemeinsame Agenda der Sozialpartner gebe es inzwischen kaum noch.
Thema im Buch ist natürlich auch die eigene Ablöse als ÖVP-Chef. Mitterlehner beschreibt die Phase als „Systembruch, im Zuge dessen aus der alten ÖVP eine neue türkise Partei entstanden ist“, und zeigt sich überrascht, „mit welcher Energie und Detailgenauigkeit“ die türkise Führungsgruppe den Wechsel systematisch vorbereitet habe. Im Buch will er die Fakten dazu chronologisch darlegen – auch damit „die Geschichtsschreibung nicht den derzeit Regierenden und ihrer Message Control überlassen bleibt“.
Die Entfremdung Mitterlehners von seinen Nachfolgern ist nicht neu. Schließlich ist seine Ablöse auch nicht ganz friktionsfrei verlaufen. Nach seinem Ausstieg aus der Politik im Mai 2017 hat er sich schon mehrmals kritisch zur Politik der türkisen ÖVP geäußert – etwa indem er das Rauchervolksbegehren oder die Initiative des oberösterreichischen Landesrats Rudolf Anschober gegen die Abschiebung von Lehrlingen unterstützte. Und auch in eigener Sache gab es Verstimmungen mit seinem Nachfolger: Mitterlehner beklagte, dass er den versprochenen Posten des Nationalbankpräsidenten doch nicht erhielt.
Den möglichen Vorwurf der Illoyalität will der ehemalige ÖVP-Chef aber nicht auf sich sitzen lassen: „Klarerweise wird es einige geben, die den moralinsauren Zeigefinger erheben und sagen werden, allein aus Rücksicht auf das wichtige Amt im Staat dürfe man so etwas nicht schreiben. Genau so kann man die Gegenfrage stellen, ob es denselben Maßstab für Loyalität und Anstand vor 2017 für andere nicht auch gegeben hat.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2019)