Wir treiben die Sau immer schneller durchs Dorf

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Erstmals bewiesen: Die wachsende Flut an Themen verkürzt unsere kollektive Aufmerksamkeit für sie.

Notre-Dame brennt: Das bewegte am Montag die ganze Welt. Morgen ist es schon fast vergessen. Wir werden rund um die Uhr mit immer neuen Themen bombardiert, vor allem über soziale Medien. Da kann sich der einzelne Aufreger nicht mehr lang halten. Viele haben das im Gefühl, es klingt plausibel, aber erforscht war es bisher nicht. Das sollte uns skeptisch machen. Vor vier Jahren ging die Meldung um die Welt, unsere individuelle Aufmerksamkeitsspanne – die Fähigkeit, uns auf etwas zu konzentrieren – sei seit dem Jahr 2000 von zwölf auf acht Sekunden gesunken und damit nun kürzer als bei Goldfischen. Das waren Fake News. Gut, dass es die meisten rasch vergessen haben. Aber jetzt liefert ein dänisch-irisch-deutsches Team von Forschern den Nachweis, dass unsere kollektive Aufmerksamkeitsspanne – wie lang ein Thema „in aller Munde“ ist – tatsächlich sinkt (in Nature Communications, 15. 4.).

Zunächst haben sie empirische Daten gesammelt, mit Twitter beginnend: Im Jahr 2013 konnte sich ein Hashtag im Schnitt noch 17,5 Stunden im Ranking der 50 global am meisten verwendeten halten, 2016 waren es nur mehr 11,9 Stunden. Aber der Trend ist älter und nicht auf soziale Netzwerke beschränkt. Untersucht wurde etwa auch, wie rasch sich die Häufigkeit von Fünf-Wörter-Blöcken (wie etwa „der Brand von Notre-Dame“) in Büchern der vergangenen 100 Jahre ändert oder wie schnell sich seit 40 Jahren die Blockbuster an US-Kinokassen ablösen. Alles wird kurzlebiger. Allerdings stumpft unsere Begeisterungsfähigkeit nicht ab: Auf dem Höhepunkt interessieren sich nicht weniger Menschen für ein Thema. Was treibt also die Entwicklung? Um das zu klären, haben die an der Studie beteiligten Mathematiker ein einfaches Modell erstellt. Es liefert dann die besten Ergebnisse – nämlich ganz nah an den empirischen Daten –, wenn es nur eine erklärende Variable enthält: die steigende Menge an Informationen, die Medien generieren und Leser konsumieren.

Schnell erregt, schnell gelangweilt

Im Ganzen ergibt sich aus Modell und Empirie folgendes Bild: Die Kapazität unserer kollektiven Aufmerksamkeit ist begrenzt. Es strömen mehr Informationen auf uns ein, sie sind viel schneller in aller Munde. Aber damit ist auch der Speicher in kürzerer Zeit voll. Das zeigt sich daran, dass uns ein Thema bald langweilt („war ja schon gestern“) und sich der Durst nach Neuem rascher wieder regt. So steil die Popularität einer Nachricht ansteigt, so brutal stürzt sie gleich wieder ab. Die Konkurrenz der Themen sorgt dafür, dass der nächste Aufreger gleich zur Hand ist und sofort durchstarten kann.

Ist das schlimm? Vielleicht kann sich unser Hirn an die neue Situation gut anpassen. Vielleicht aber lässt die News-Flut auch viele überfordert und orientierungslos zurück – angefangen bei den Journalisten selbst, die sie verbreiten. Wie lassen sich schädliche Effekte abmildern? Die Studie zeigt: Es gibt einen Bereich, der von der Schnelllebigkeit verschont geblieben ist – die Wissenschaft. Das Interesse an Wikipedia-Einträgen und Artikeln in Fachzeitschriften unterliegt nicht den heute üblichen hektischen Zyklen. Wie gut also, dass Sie diesen Artikel zu Ende gelesen haben. Sie werden sich noch morgen daran erinnern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2019)

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