Was passierte, als Sebastian Kurz die Macht übernahm? Reinhold Mitterlehner nennt sein Buch eine „zeithistorische Aufarbeitung“, für Kritiker ist es ein Produkt „verletzter Eitelkeit“. Es ist vor allem ein Appell an Christlich-Soziale.
Reinhold Mitterlehner war gerade dabei, sein Buch zu präsentieren, da wurde eine Passage daraus schon unfreiwillig bestätigt. Denn wie lässt sich in „Haltung“, wie das Werk des ehemaligen Vizekanzlers und ÖVP-Chefs heißt, auf Seite 13 nachlesen: „Meistens reden nur die, die nichts mehr zu verlieren haben.“
Also sprach Michael Spindelegger: Mitterlehners Abgang sei nicht Resultat einer Intrige gewesen, „sondern die Rettung der Volkspartei“. Die ÖVP sei von einer Wahlniederlage in die nächste getaumelt „und war auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit“, ließ Mitterlehners Vorgänger der APA ausrichten. Dann schickte auch Spindeleggers Vorgänger, Josef Pröll, eine Stellungnahme aus: Bei der Erzählung handle es sich um ein Produkt von „verletzter Eitelkeit“.
Die Protagonisten der Machtübernahme, die Mitterlehner in seinem Buch namentlich nennt und beschreibt, schwiegen allerdings lieber. Sebastian „der Rechtspopulist“ Kurz? Schweigen. Wolfgang „der Zerstörer“ Sobotka? Kein Kommentar. Denn man brauche, wie er sagte, „nicht jede Fußnote der Geschichte kommentieren“.
Im Kanzleramt führte man wohl selbst Buch darüber, wer sich wann zur Causa geäußert hatte. Viele entschieden sich, nichts zu sagen: Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner wanderte am Großglockner, Oberösterreichs Landeschef Thomas Stelzer schickte seinen Landesgeschäftsführer vor. Man verstehe die Kritik an der Regierung nicht. Das galt auch für den Wirtschaftsbund, immerhin Mitterlehners politische Heimat. Am Nachmittag war es Niederösterreichs Landeshauptfrau, Johanna Mikl-Leitner, die doch noch in die Offensive ging: Es sei „traurig zu sehen, dass der Schmerz so tief sitzt“, richtete sie der „Presse“ aus. Gemeint war Reinhold Mitterlehner. „Persönlich wünsche ich ihm dennoch alles Gute.“
Er, also Mitterlehner, spricht auch erst zu einem Zeitpunkt, zu dem er wenig zu verlieren hat. Er hofft eher, seine Reputation etwas zurechtzurücken. Im Mai 2017 legte Mitterlehner seine Funktion als ÖVP-Chef und Vizekanzler zurück – überraschend und unabgesprochen. Sein innerparteilicher Kontrahent und Nachfolger, Sebastian Kurz, erfuhr von dem Vorhaben, als er aus einem Flugzeug stieg. Es war die erste, kleinere Retourkutsche Mitterlehners.
Die zweite folgt nun also zwei Jahre nach Mitterlehners Rücktritt: ein Buch, das den Machtwechsel in der Partei aufarbeiten soll. Nicht wegen einer persönlichen Kränkung, sondern „zur Klarstellung“. Schon während der Wirtschaftskrise habe er mit dem Gedanken gespielt, ein Buch zu verfassen. Nun sei es eben eine „politische Autobiografie“ geworden. Und warum sollte er das Ende seiner Karriere nicht erwähnen – aus Parteiräson? Sein „beinahe unerschöpfliches Potenzial“ davon sei aufgebraucht.
Man merkt Mitterlehner aber auch an, dass ihn die Kommunikation der türkis-blauen Koalition ehrlich ärgert: „Die Regierenden sind von der Wahrheit immer weiter entfernt“, sagt Mitterlehner bei seiner Buchpräsentation. Wenn der Kanzler meint, Neuwahlen seien 2017 nötig gewesen, weil die Regierung nur gestritten habe, „dann ist das ein bisschen eine perfide Darstellung“. „Diejenigen, die heute die Harmonie heraufbeschwören, haben damals den Streit in die Regierung gebracht.“ Im Buch wird Mitterlehner etwas deutlicher: Er meint vor allem Kurz und den damaligen Innenminister und jetzigen Nationalratspräsidenten, Wolfgang Sobotka.
Normale Intrigen sei er als ÖVP-Obmann ja gewohnt gewesen. „Alles, was ab 2016 passiert ist, war dann aber doch beachtlich“, sagt Mitterlehner. Es sei „eine Energie verwendet worden, die jeden russischen Revolutionär vor Neid erblassen lassen würde“. Mitterlehner schreibt von Meinungsumfragen, die Kurz 2016 in Auftrag gegeben hat, von Anrufen bei Landeshauptleuten, Strategiepapieren, parallelen Sitzungen mit Vorstandsmitgliedern und einem Torpedieren der Regierungsarbeit.
„Besorgniserregende“ Lage
Unabhängig von der Vergangenheit mahnt Mitterlehner aber auch vor einer „besorgniserregenden Entwicklung der Gesellschaft“. Die Regierung sei rechtspopulistisch, sie grenze eine bestimmte Gruppe aus und nutze eine „Verrohung der Sprache“. Das merke man an den „Ausreisezentren“ und der Verstaatlichung der Rechtsberatung für Flüchtlinge. Die Christlich-Sozialen sollten sich Gedanken machen, was gerade in Österreich geschehe. „Wenn das passiert, habe ich erreicht, was ich mit dem Buch intendiert habe.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2019)