Was wir fasten, wenn wir nicht fasten

(c) Peter Kufner
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Wir unterlassen das Fasten nicht aus Angst vor dem Verzicht, sondern weil wir es vermeiden, bewusste Entscheidungen zu treffen.

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Es wird in diesem Leben immer unwahrscheinlicher, dass es noch einen Tag geben wird, an dem niemand mehr auf eine Antwort von uns wartet.

Im Durchschnitt berühren wir unser Smartphone 2617-mal am Tag, und wir waren noch nie weit entfernt vom Durchschnitt, also wird auch diese Statistik auf uns zutreffen. Wie oft haben wir einen Finger auf dem Gerät, und wie oft berühren wir unsere Freunde? Anderen sagen wir, dass unsere Partner unser Zuhause sind, und was wir meinen, ist, dass wir ab und zu unser Smartphone zur Seite legen und aus ihnen eine Telefonzelle machen.

Das Konsumieren von Nachrichten, Bildern und Impulsen ist einfach geworden, der Verzicht darauf fast unmöglich. Es ist Ostern, und wir überlegen, auf was wir beim Fasten verzichten könnten, und dann, ob die Schokolade wirklich das Problem ist oder die Menschen, die wir schon mit Genussmitteln verwechselt haben.

Als wir Kinder waren, haben wir die christlichen Bräuche noch mitbekommen, die Gottesdienste in der Dorfkirche, den Beginn des Fastens am Aschermittwoch, aber irgendwann sind wir alle in die größere Stadt gezogen und haben den Bezug dazu verloren. Wir glauben zu wenig an die guten Absichten der Kirche, um die Motivation aufzubringen, uns an ihre Fastenordnung zu halten.

Wahrscheinlich sind wir keine guten Christen.

Sophia Fritz
Sophia FritzBR/Fabian Stoffers

Verzicht, um uns zu verbessern

Die Bibel sagt, es gibt Glaube, Hoffnung und Liebe, aber wir waren noch nie gut im Multitasking. Die Bibel sagt, nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken, und wir sind höchstens Hypochonder mit ausgeprägten Ängsten. Wir haben also aufgehört, in der Bibel zu lesen, und trotzdem könnte die Fastenzeit für uns auch ohne christlichen Kontext bedeutend sein. Im „Duden“ steht, beim Fasten: „für eine bestimmte Zeit ganz oder teilweise der Nahrung enthalten oder auf den Genuss bestimmter Speisen verzichten“. Aber lohnt es sich überhaupt noch, auf etwas zu verzichten? Und wovor haben wir dabei Angst?

Mittlerweile sind wir erwachsen oder zumindest nah dran und verzichten zwar ständig bewusst auf Dinge, aber nicht um unser Leben, sondern um uns selbst zu verbessern, oder zumindest den Teil von uns, der auch für die Öffentlichkeit sichtbar ist.

Weil wir unsere Körper optimieren möchten, machen wir eine 30-Tage-Challenge auf YouTube, wir ernähren uns gesund, wir probieren es mit Detox-Tee, mit Yoga für die Ausgeglichenheit, mit Krafttraining für den Rücken, mit Zeitungsabonnements, mit Ratgeber-Podcasts, mit Jahrestickets.

Es ist schwer, den bewussten Verzicht in die Tat umzusetzen, denn dass das Glück im Gegenteil liegt, wird uns jeden Tag suggeriert: In einer Großstadt nehmen wir im Schnitt jeden Tag sechshundert Werbeanzeigen wahr. Sechshundert Aufforderungen, die uns sagen, dass unser Leben ein verbesserungswürdiges Leben ist. Sechshundertmal am Tag fühlen wir uns leicht schuldig.

Die meisten Dinge tun wir nicht, um glücklich zu sein, sondern, um in Zukunft intelligenter, glücklicher oder schöner zu werden. Wir können uns an keine Zeit in unserem Leben erinnern, in der wir nicht versucht haben, ein Ziel zu verfolgen. Wir können uns an keine Zeit in unserem Leben erinnern, in der wir uns nicht schlecht gefühlt haben, wenn wir gerade kein Ziel verfolgen. Wir glauben nicht, dass wir schlechte Menschen sind, aber wir wissen, dass wir andere um ihre Absichtslosigkeit beneiden. Wenn jemand aus dem Vollen schöpft, dann wir. Wenn wir an unseren Konsum denken, dann denken wir an Plastikdeckel und Einweggeschirr, Überdüngung und das Bienensterben und daran, dass wir den Wespen wahrscheinlich sowieso immer ähnlicher gewesen sind.

Wir versuchen alle, alles zu sein

Es geht nicht nur um den Konsum, sondern auch um unseren Lebensweg: Als wir Kinder waren, wurde uns gesagt, dass wir alles sein können, und jetzt versuchen wir auch, alles zu sein, ohne uns für eine Sache zu entscheiden.

Weil wir das Gefühl haben, sowieso nichts ändern zu können, lenken wir uns ab. Wenn es einen Grund gibt, dass wir unser Handy 2167-mal am Tag berühren und vor Jahren selbst vor den Prüfungen aufgehört haben zu beten, dann, weil unser Internet schneller als jeder Gott ist. Man sagt immer, man könne sich nicht selbst ignorieren, aber wir können uns an den Bushaltestellen und in den U-Bahnen und auf den Heimwegen genauso gut ignorieren wie jeden anderen Fahrgast auch. Wenn wir uns einmal allein antreffen, können wir unsere Kopfhörer aufsetzen und auf unsere Handys schauen, um beschäftigt zu wirken und um einem Gespräch mit uns selbst aus dem Weg zu gehen.

Wir glauben nicht mehr an die alten Motivationen zu fasten, die Werte von Buße tun und Reue liegen den meisten von uns fern. Wir unterlassen das Fasten nicht aus Angst, auf etwas verzichten zu müssen, sondern weil wir es vermeiden, bewusste Entscheidungen zu treffen. Einerseits, weil uns alle Möglichkeiten zur Zerstreuung an die Hand gegeben werden, andererseits, weil wir es gewohnt sind, dass wir uns von uns selbst ablenken können, indem wir uns abgeben und unsere Problemen anderen überlassen. Dann verwechseln wir andere Menschen nicht mit Heiligen, aber ab und zu mit Pilgerorten, verwechseln Liebeserklärungen mit Lösungen. Es gibt unsere schlechten Seiten, und wir finden immer jemanden, der sie lesen möchte. Manchmal treten wir nur in Beziehung mit anderen Menschen, damit wir gegenseitig unsere Ängste babysitten.

Wir finden die Abgründe eines anderen sympathischer als unsere eigenen, und der andere versteht unsere Dämonen besser als wir, weil er sich noch mit ihnen beschäftigen möchte, während wir versuchen, sie zu ignorieren.

Also kümmert sich jemand anderes um unsere Ängste, also verbringt jemand anderes Zeit mit ihnen, also werden wir abhängig von jemand anderem, weil es einfacher ist, nicht allein für uns und für alle unsere Seiten zuständig zu sein. Natürlich bedeutet das nicht, dass wir auf Freunde und gute Ratschläge verzichten sollten. Nur hätten wir langfristig vielleicht ein paar schlechte Seiten, ein paar Ängste und Abgründe weniger, wenn wir uns selbst bewusst mit ihnen beschäftigen würden.

Was wäre, wenn wir vier Wochen lang, statt unseres Smartphones, unser Leben in die Hand nehmen würden, wenn wir 2167-mal am Tag uns selbst hinterfragen, nicht wertend, nur prüfend: Mache ich gerade die Aktivität, die ich machen möchte? Fehlt es an etwas? Gibt es ein Zuviel? Wir könnten, statt Schokolade einmal unsere Überzeugungen fasten, unsere Angewohnheiten, von denen wir längst nicht mehr wissen, wo sie begonnen haben und wo sie aufhören sollen.

Fasten als das Durchbrechen von Gewohnheiten. Fasten als Neuorientierung. Fasten als Kontrolle, wie viele unserer Gedanken, unserer alltäglichen Handbewegungen uns noch zuträglich sind. Damit können wir jederzeit anfangen. Auch nach Ostern.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zur Autorin

Sophia Fritz (*1997) studiert an der Hochschule für Fernsehen und Film in München Drehbuch. Sie arbeitete in einem Waisenhaus in Bolivien und ließ sich zur Sterbebegleiterin ausbilden. Auf Instagram nennt sie sich Josephine Frey. Soeben erschien ihr Buch „Gott hat mir nie das Du angeboten“ (Herder Verlag, 178 Seiten, 18,60 Euro).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2019)

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