Selenskijs Stimme "für die Ukraine"

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Herausforderer Wolodymyr Selenskij gab seine Stimme in einem Plattenbauviertel in Kiew ab, Amtsinhaber Petro Poroschenko wählte im zentralen Haus der Offiziere: Zwei Orte mit Symbolbedeutung im ukrainischen Präsidentschaftswahlkampf.

Mit schwarzer Sonnenbrille erschien Wolodymyr Selenskij im Wahllokal im Kiewer Bezirk Obolon. Unerkannt blieb er natürlich nicht: An die 200 Journalisten waren gekommen, um bei der Stimmabgabe dabei zu sein. Der Präsidentschaftskandidat, der von seiner Ehefrau Olena begleitet wurde, wurde von einer Menschenmenge sprichwörtlich in den blassgrauen Plattenbau geschoben, wo er unter Blitzlichtgewitter wählte. Ein Dutzend junge Männer bildeten einen Kordon um ihn. An ihrer sportlichen Statur und ihrem uniformen Dresscode – Jeans, Freizeitjacken, Turnschuhe, kurzes Haar – waren sie als Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes erkennbar. Und zwar des Sicherheitsdienstes des Fernsehsenders 1+1, auf dem Selenskijs Shows und Serien laufen. Polizisten waren hingegen kaum anwesend.

„Für die Ukraine“ habe er gestimmt, sagte Selenskij nach der Wahl. Ähnlich äußerte sich Amtsinhaber Petro Poroschenko. „Einen Sieg für die Ukraine“ erwarte er. Poroschenko wählte im Haus der Offiziere im Zentrum Kiews – seinem Image als Staatsmann und Oberbefehlshaber der Armee entsprechend. Herausforderer Selenskij hatte sich im Wahlkampf als einfacher Mann aus dem Volk inszeniert. Dem entsprach der Ort der Stimmabgabe: Die Schule im Plattenbauviertel Obolon nördlich des Zentrums, in dem weniger einkommensstarke Schichten leben.

Die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl war um elf Uhr höher als im ersten Wahlgang. Alle Wahllokale wurden geöffnet. Mehr als 30 Millionen Bürger sind wahlberechtigt. Nachwahlumfragen werden nach Schließung der Wahllokale um 20 Uhr Ortszeit erwartet.

Polizei zeigte Selenskyj bei Gericht an

Wenig später war klar, die Stimmabgabe von Selenskij wird ein Nachspiel vor Gericht haben. Da der Präsidentschaftskandidat am Sonntagvormittag auf Verlangen von Journalisten seinen ausgefüllten Wahlzettel demonstriert hatte, habe die Polizei nun ein Verwaltungsstrafverfahren eingeleitet, erklärte der Sprecher seines Stabs, Dmitro Rasumkow, am Nachmittag.

Die Polizei habe das Zeigen des ausgefüllten Wahlzettels als am Wahltag verbotene Agitation interpretiert, die nach dem Artikel 221-10 des ukrainischen Verwaltungsstrafrechts mit Strafen zwischen 510 und 850 Hrywnja (17 und 28 Euro, Anm.) geahndet werde, spezifizierte Selenskijs Jurist Wadym Haljatschuk. Selenskij-Sprecher Rasumkow betonte, dass der Präsidentschaftskandidat nicht mutwillig das Gesetz verletzt habe und dies einfach passiert sei. „Die Wahlen sind noch nicht zu Ende und das Land ändert sich schon. Sogar Präsidenten werden schon für Verwaltungsübertretungen angezeigt. Wir hoffen, dass das allgemeine Praxis wird und alle lernen, gesetzestreu zu leben", kommentierte er die Causa entspannt. Anhänger von Selenskijs Konkurrenten Petro Poroschenko hatten das Vorzeigen des Wahlzettels zuvor in sozialen Netzwerken heftig kritisiert.

Wohlstand gegen Westkurs

Einen Sieg für die Ukraine wollen also beide Kandidaten, jedoch stehen sie für unterschiedliche Konzepte. Poroschenko, dem Umfragen eine deutliche Niederlage prognostizieren, inszenierte sich als Kandidat eines starken, wehrhaften Staates. Er betonte die Westorientierung, Verteidigungsbereitschaft und den nationalpatriotischen Kurs. Zuletzt warnte er mehrmals vor einem „Aufgeben“ der Ukraine – ein Appell an die Ukrainer, dass nur seinem Kurs zu trauen sei und nicht dem Polit-Novizen Selenskij.

Selenskij dagegen besetzte innenpolitische Themen und traf damit den Nerv eines Gutteils der Bevölkerung: Wohlstand, Kampf gegen Armut und Korruption waren seine Schwerpunkte – und für viele erwies sich das als lebensnaher und dringlicher als die Betonung von Außenpolitik durch den amtierenden Präsidenten.

"Das alte System muss zerstört werden"

Gennadij Wladimirowitsch hat für Selenskij gestimmt. Für ihn steht der Showmaster für einen Neubeginn. „Das alte System muss zerstört werden“, sagt der Familienvater, der von seinen zwei Töchtern begleitet wird. Nur der Herausforderer könne das schaffen. „Die Gesetze müssen endlich eingehalten werden“, sagt der 49-Jährige, der Poroschenko für einen „Dieb“ hält. „Wir wollen so leben wie in Europa", sagt er mit einem Blick auf seine Töchter. Auch Valerij Nikolajewitsch, 67, zeigt sich unzufrieden mit dem derzeitigen Präsidenten, der sich unrechtmäßig bereichert habe. In Selenskij hat er Vertrauen, dass er es anders machen könne. „Er ist aus eigenem Talent aufgestiegen, er ist nicht Teil des Systems.“ Als Schauspieler habe er sogar persönliche Bekanntschaft mit Selenskij gemacht. „Ein einfacher, ehrlicher, intelligenter Mensch.“

Eine andere Meinung hat Vera Wjatscheslawowna, eine frühere Opernsängerin. Sie sieht die Westorientierung der Ukraine nur durch die Präsidentschaft von Poroschenko gesichert. „Die Leute beklagen sich gern“, sagt sie. „Früher haben wir schlechter gelebt.“

Antrag für Ausreiseverbot

In den ukrainischen Medien waren zuletzt Gerüchte laut geworden, dass Poroschenko bei einem Amtsverlust eine strafrechtliche Verfolgung drohen könne. Anlass dazu hat auch eine Aussage Selenskijs bei der Debatte im Stadion am Freitag gegeben. Er sagte zu Poroschenko: „Ich bin nicht Ihr Opponent, ich bin Ihr Urteil.“ Ein bekannter Moderator des TV-Kanals 1+1 hat zudem vor Gericht ein Ausreiseverbot für Poroschenko beantragt. „Das wäre schlimm“, sagt Vera Wjatscheslawowna. „Aber er wird sich dagegen wehren.“

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