Osterfestival Tirol: Irdisches Leiden, himmlisches Amen

Schuberts „Unvollendete“, tänzerisch: „Twenty-seven perspectives“ beim Osterfestival.
Schuberts „Unvollendete“, tänzerisch: „Twenty-seven perspectives“ beim Osterfestival.(c) Osterfestival Tirol
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In Hall und Innsbruck begeisterten u. a. barocke Klagen und die Glaubensgewissheit gregorianischen Chorals.

Zuletzt brausten und tosten die beiden Klaviere unter den Händen von Markus Hinterhäuser und Igor Levit im feierlichen Jubel des „Amen de la Consolation“, des letzten Satzes von Olivier Messiaens „Visions de l'Amen“, diesen umfassenden Betrachtungen über die theologischen Facetten des Wörtchens Amen. „Glockenschall, Glockenschwall supra urbem, über der ganzen Stadt, in ihren von Klang überfüllten Lüften“, wollte man mit dem Beginn von Thomas Manns Roman „Der Erwählte“ ausrufen, „an hundert weihlichen Orten auf einmal“.

Eine himmelstürmende Kathedrale errichtet Messiaen in diesem Finale, eine Kathedrale, deren dröhnendes Geläut eine Ahnung von Transzendenz verkündet – und die famosen Interpreten im Salzlager Hall ahnten aus vollem Herzen und mit flinken Fingern: der ernste Ältere wie ein abgeklärter und doch leidenschaftlicher Hohepriester, der Jüngere als neugieriger, freudig lächelnder Adept. Eine kurze, zugleich die musikalisch dichteste, erfüllteste Stunde beim Osterfestival Tirol, zart einbegleitet durch Walter Seebacher mit dem Klarinettensolo „Abîme des oiseaux“, dem ältesten Satz aus dem „Quatuor pour la fin du temps“.

Dieses Gründonnerstagskonzert nahm gleichsam den Osterjubel vorweg – doch jener will eigentlich erst verdient werden. Es gebe niemanden, der nicht „in einer unglaublichen Weise darüber wehklagt, dass der Herr so viel für uns gelitten hat“, berichtete die Pilgerin Egeria von liturgischen Passionslesungen während der Karwoche im Jerusalem des vierten Jahrhunderts. Wenig später rückte Kirchenvater Augustinus das Miterleben zur Seite und favorisierte eine Lesung in feierlicher Würde: Schließlich seien wir ja schon erlöst. Die Identifikation mit dem Leid und eine auf das heilsgeschichtliche Ende sehende Solennität, sie waren von jeher die Pole, zwischen denen sich die künstlerischen Deutungen der Passion bewegen mussten.

Mit Kunst zur Spiritualität

Mehrheitlich besteht das reiche Programm des Osterfestivals Tirol in überkonfessionellen Angeboten, via Kunst dem Spirituellen ebenso wie dem (fremden) Mitmenschen zu begegnen. Holt Maud Le Pladec mit „Twenty-seven perspectives“ zu einer tänzerischen Interpretation von Schuberts Unvollendeter aus, dann treten aus dem starken Ensemble ebenso wie bei der fragmentierten, verfremdeten, gefilterten Tonspur (Bearbeitung: Pete Harden) immer wieder Soli und Begleitfiguren, Blackouts und Generalpausen hervor. Aber fallweise werden auch Kunst und Liturgie eins. Wenn am Karfreitag um 15 Uhr in der Herz-Jesu-Basilika Hall die von Fulvio Rampi geleiteten Cantori Gregoriani aus Mailand die Passion nach Johannes choraliter vortragen, also im einstimmigen Wechselgesang, dann ist das auch ein ganz normaler Gottesdienst – das heißt, ganz und gar nicht katholisch „normal“, sondern karg.

Das Theatralische, Miterlebende findet sich allenfalls sedimentiert in der persönlichen Kreuzverehrung der Gläubigen, musikalisch ist es weitgehend ausgekehrt – bis auf die personelle Dreiteilung in tiefe Jesusworte, die Rezitation des Evangelisten in mittlerer Lage und die hoch gesungenen sonstigen direkten Reden von Einzelnen und des Volkes. Weil die Verszeilen aber meist dort münden, wo das heutige Ohr die Tonika vernimmt, klingt das nach eherner Glaubensgewissheit – und entsprechend undramatisch. Bei aller Einkehr doch auch sinnlich tönten dagegen die „Jeremias-Lamentationen“ des 1703 in Brüssel geborenen Joseph-Hector Fiocco, dargeboten vom auch singenden Lautenisten Nicolas Achten und seinem Ensemble Scherzi Musicali – im Wechsel mit Instrumentalsonaten von Willem de Fesch, die neben Fioccos melodiöser Geschmeidigkeit beinah sündhaften Schmiss versprühten.

Beim Konzert des brillanten, aus Nord- wie Südtiroler Bläsern und Schlagzeugern gebildeten Ensembles Windkraft unter Kasper de Roo schien es um den Ritus im Allgemeinen zu gehen. Mit dem elektrisierenden Weckruf der Es-Klarinette von Edgar Varèses „Intégrales“ hob gleichsam eine kultische Handlung an, die ihre Kraft aus subtil abgewandelten Wiederholungen und Steigerungen bezog.

Klopfzeichen einer verschütteten Seele

Immer faszinierend, wie spärlich und zugleich überbordend dagegen Galina Ustwolskaja ihre Symphonie Nr. 5 „Amen“ formuliert hat – ein fundamental anderes, in diesseitigem Leid verharrendes Amen: Hammerschläge auf eine Holzkiste sind Klopfzeichen einer verschütteten Seele, in der Tuba klafft brodelnd ein Abgrund, die Oboe schluchzt, aus der Violine tropfen immer dieselben drei Töne wie Tränen. Vielleicht hätte russisches Pathos den Eindruck noch verstärkt, aber Eleonore Bürcher ließ es auf Deutsch nicht an Inbrunst fehlen. Bei Giacinto Scelsis „I presagi“ scheinen es dagegen stets heidnische Riten oder Endzeitvisionen zu sein, die in aufregend urtümlicher Weise wabern und wogen, zischen und zittern. Das letzte Wort aber behielt der himmlische Triumph in allen Farben mit Messiaens „Et exspecto resurrectionem mortuorum“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2019)

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