Vorwurf

Ein Vorwurf ist mehr als nur Anschuldigung, er fordert Reaktion und ein Bemühen um die Beziehung. Wessen Vorwurf trifft mich?

BIMAIL VON Dominik Markl SJDu schaffst, mit ein paar Worten, die die Zeit in nicht gerade kleinen Abständen vor Dich hinstreut, Undeutlichkeiten, mit denen ich nun wieder ebenso schonungslos ins Gericht gehen muss wie seinerzeit mit Dir selber“, schreibt Paul Celan an Ingeborg Bachmann in jenem lebensschweren Briefwechsel, der unter dem Titel „Herzzeit“ erschienen ist.

Vier Jahre zuvor waren die beiden einander erstmals in Wien begegnet – eine Begegnung, die sie nicht mehr loslassen sollte: „Bestimmung, vielleicht, Schicksal und Auftrag“, wie Celan selbst sie zu benennen versucht. Obschon das durch Zeiten des Schweigens geprägte Liebesgespräch der ersten Jahre durchsetzt ist von Vorwürfen, welche Bachmann „sehr kühl anwehen“ und als Missverständnisse und Misstrauen Celans erscheinen, bewährt sich die Beziehung durch diese Vorwürfe hindurch, sodass Paul Celan im Herbst 1957 sagen kann, er sei mit ihr auf immer versöhnt. Auch wenn er noch „mein Notschrei“, schreiben wird, „Du hörst ihn nicht, bist nicht bei Dir“ (1959) und: „Du hast dich verabenteuert, – dass Du es nicht einmal weisst, ist... der Beweis dafür“ (1960).

Der Vorwurf setzt Nähe voraus und Intimität. Ein Vorwurf trifft, er „gelingt“ – würde der Philosoph des sprachlichen Handelns John Langshaw Austin sagen – nur innerhalb einer emotional gewichtigen Beziehung, die kein „lass sie doch reden“ erlaubt. Vorwurf ist viel mehr als nur Angriff oder Anschuldigung. Er offenbart die Verletztheit, fordert Antwort, Erwiderung, ein Bemühen um stimmigere Beziehung. Vorwürfe sind geradezu Signale für die Qualität ernsthafter Beziehungen.

Auch in der Bibel: Ein Vorwurf spricht aus Martas Wort an Jesus, „wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben“. Sie bringt damit zum Ausdruck: „Du bist mitverantwortlich für den Tod meines Bruders!“ Aber auch: „Du warst der heilsamste Mensch für ihn, und ich erwarte mir lebensrettende Beziehung von dir.“

Harte Vorwürfe gehören zum Umgang der biblischen Beter mit Gott. Mose greift am Tiefpunkt seiner Mission zu bitterer Ironie: „Wenn du das mit mir machst, bring mich doch überhaupt um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen!“ Israel schreit in Psalm 44 verzweifelt zu Gott: „Wach auf! Warum schläfst du, Herr?... Warum verbirgst du dein Gesicht, vergisst unsere Unterdrückung und Bedrängnis?“ Auf Ijobs Anklagelitanei antwortet Gott selbst mit einem verletzten Vorwurf, er antwortet im Sturm: „Wo warst du, als ich die Erde gründete?“

Vorwürfe von Menschen, die mir am nächsten sind, belasten den ohnehin mühsamen Alltag. Sie stören das eingespielte Zusammen- oder Auseinanderleben. Wer rüttelt mich auf, will größere Nähe oder Stimmigkeit von mir? Wer wünscht größeren Einsatz und Hingabe? Wessen Vorwurf trifft mich?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2010)

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