Die (neue) Gesellschaft und ihre Rituale

Spiele mit Fäden: „This Is Where You Draw The Line“, eine Performance mit leichtem Gruppenseminar- Touch.
Spiele mit Fäden: „This Is Where You Draw The Line“, eine Performance mit leichtem Gruppenseminar- Touch.(c) Donaufestival/David Visnjic
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Fäden und Federschmuck: Das Donaufestival in Krems zum Thema „New Society“ begann mit klugen Performances. Und einer Erinnerung an 1968.

Wie verhält man sich, wenn man in einen Großraum kommt, in dem die Menschen nicht nur metaphorische Netze knüpfen? Greift man auch zu den Schnüren? Gar zur Schere? Oder sieht man nur zu? Vor dieser Entscheidung fanden sich die Besucher des Donaufestivals in der Performance „This Is Where We Draw The Line“. Und obwohl schon das Programmheft sie dazu aufgefordert hatte, „sich als choreografische Gemeinschaft zu verstehen“, blieben – zumindest am ersten Tag des Festivals – die meisten recht passiv, warteten brav, bis Chefperformerin Karin Pauer sie mit strengem Blick z. B. dazu aufforderte, paarweise an einem Strang zu ziehen.

„Imagine the two of you starting a revolution“, wurde anderen geboten. Man stelle sich vor: Revolution in der Performance! Wo könnte das hinführen? Wildes Stricken? Kollektives Knoten? Lieber nicht, das könnte doch peinlich werden . . . Also sah man lieber Ritualen zu, statt selbst Teil eines Rituals zu werden, dessen Regeln man nicht kannte. Und tat vielleicht recht daran. Auch dieser Verzicht auf rasche Einmischung, darauf, sich stets sofort „einzubringen“, wie man heute so unschön sagt, konstituiert Kultur. Wer in eine ihm neue Kirche kommt, stellt sich besser nicht gleich neben den Priester an den Altar . . .

Gut zum Thema des heurigen Donaufestivals, „New Society“, passte auch das Eröffnungskonzert in der säkularisierten Minoritenkirche. Dort fanden sich Vertreter zweier vermeintlich recht unterschiedlicher Gesellschaften: der israelische Noise-Gitarrist Yonatan Gat und Trommler aus dem „Volk der Algonkin“, so das Programmheft. Diese sahen aus, wie sich ein Leser von „Der Schut“ und „Lederstrumpf“ in den 1970er-Jahren „Indianer“ vorgestellt hat, mit Federschmuck, Fransenjacke, Medizinbeutel. Und zum Teil mit der steilen Frisur, die man seit Punk einen „Irokesen“ nennt, auf Englisch „Mohawk“. Womit einen dieses Konzert weniger in Trance versetzte als grübeln ließ, wie die Volks- und Sprachbezeichnungen Mohawk, Irokesen und Algonkin zusammenhängen. Und ob man solch eine Darbietung volkstümlich nennen kann. Laut und zumindest für Minuten fesselnd war sie, und es war schön, die Musiker ein paar Stunden später beim weihevollen Auftritt der parasakralen Schwedin Anna von Hausswolff gemeinsam und halbwegs andächtig im Publikum zu sehen.

Davor hatte man ein anderes Ritual erlebt, das zwar „Alien Parade“ hieß, aber in Krems und Umgebung durchaus heimisch ist: Eine Blaskapelle (aus dem Umfeld der bayrischen Indie-Rock-Band The Notwist) zog paukend und posaunend unter reger Publikumsbeteiligung von Stein zum Kremser Messegelände. Beim Einmarsch hörte man konkurrierende Klänge, unverständliche, hysterisch anmutende Parolen. Noch ein Ritual? Ein Überraschungshappening? Der Fall war rasch geklärt: Am Fußballplatz daneben fand ein Spiel der Landesliga statt, und die Stimme war die des Platzsprechers.

Inspirierend wirkte auch das erste große Theater des Donaufestivals, „Paradise Now (1968–2018)“, eine Art Re-enactment einer Aufführung der Anarchotheatergruppe The Living Theatre aus dem Jahr 1968 durch 13 Jugendliche. Eine Parade der gefrorenen Bilder und gestellten Ekstasen als Reise zurück in eine unschuldige Zeit, in der man noch „Free love!“, „Fantasie an die Macht“ und „Change the world!“ rufen konnte, ohne wie ein Werbetexter zu wirken. Am Ende nachdenkliche Texte der Jugendlichen, zuletzt der Satz: „The present is the most difficult thing for us to live.“ Wir werden noch einmal darüber nachdenken müssen.

(Das Donaufestival findet noch am Sonntag, den 28. 4., und dann von 3. bis 5. Mai statt.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2019)

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