Die Causa Boeing 737 Max wächst sich zu einem Krimi mit Blockbuster-Qualität aus. Neue Berichte zeigen: Das rettende Warnsystem war deaktiviert – aus finanziellen Gründen.
Wien/Washington, D.C. Das Vertrauen der Menschen in die Technik reicht weit. Aber die zwei Abstürze von Flugzeugen des Typs Boeing 737 Max dürfte es nachhaltig erschüttert haben. Je mehr Details an die Öffentlichkeit kommen, desto gruseliger wird die Geschichte. Sie bietet längst Stoff für einen Kinokassenschlager. Die neueste Wendung förderte das „Wall Street Journal“ ans Tageslicht. Wieder einmal geht es um das speziell für den Flugzeugtyp entwickelte Stabilisierungssystem MCAS. Es steht im Verdacht, bei den zwei Flugzeugabstürzen binnen weniger Monate eine verheerende Rolle gespielt zu haben. Das System drückt bei einem drohenden Strömungsabriss, der zum Absturz führen kann, die Nase des Flugzeugs automatisch nach unten. Auch, wenn die Piloten gegensteuern.
Einem Bericht der Zeitung zufolge hat sich die US-Flugaufsicht FAA bereits im vergangenen Jahr mit dem umstrittenen Stabilisierungssystem beschäftigt. Inspektoren, die für die Aufsicht der US-Fluggesellschaft Southwest Airlines zuständig waren, hatten erfahren, dass bei Flugzeugen der Airline ein Warnsystem deaktiviert gewesen war, das Fehlfunktionen von MCAS meldet. Das wurde erst nach dem Absturz der Lion-Air-Maschine in Indonesien bekannt, bei dem im Oktober alle 189 Insassen ums Leben kamen.
Die US-Fluggesellschaft Southwest ist der größte Nutzer der Boeing 737 Max. Eine Sprecherin sagte, Boeing habe es vor dem Flugzeugabsturz in Indonesien so dargestellt, als sei das Warnsystem bei allen Flugzeugen des Unglückstyps aktiviert. Aber nach dem Lion-Air-Absturz habe Boeing die Fluggesellschaft darüber informiert, dass das Warnsystem grundsätzlich nicht aktiviert gewesen sei. Es stellte sich heraus, dass die Aktivierung eine kostenpflichtige Zusatzoption war. Eine Option, die möglicherweise die Leben jener 157 Menschen hätte retten können, die fünf Monate später beim Absturz einer 737 Max in Äthiopien starben. Darunter waren auch drei Österreicher. Das Warnsystem informiert die Piloten, wenn die Sensoren falsche Daten liefern.
Startverbot wurde diskutiert
Die Fluggesellschaft Southwest entschied sich jedenfalls dafür, das kostenpflichtige Zusatzpaket für ihre damals 34 Flugzeuge des Typs Boeing 737 Max in Anspruch zu nehmen. Als das die US-Luftfahrtaufsicht FAA erfuhr, prüfte sie, ob die Piloten zusätzliche Schulungen benötigten und die Maschinen so lange auf dem Boden bleiben müssten. Die Inspektoren entschieden sich aber dagegen. Die Informationen wurden nicht an die Leitung der Behörde weitergegeben. Das „Wall Street Journal“ zitiert aus einem internen E-Mail-Verkehr der Flugaufseher. Es sei unverantwortlich, Max-Flugzeuge zu betreiben ohne das Warnsystem aktiviert zu haben, heißt es da etwa. In einem anderen Mail wird ein Startverbot für die Flugzeuge vorgeschlagen, bis das Warnsystem eingerichtet ist und die Piloten entsprechende Schulungen erhalten hätten. Aber dazu kam es bekanntlich nicht.
Im Flugzeug der Ethiopian Airlines, das den Alarm nicht aktiviert hatte, brauchten die Piloten vier Minuten bis ihnen klar wurde, dass einer der Sensoren falsche Daten lieferte. Und dass diese falschen Daten dazu führten, dass das Stabilisierungssystem MCAS die Nase des Flugzeugs fälschlicher- und tödlicherweise nach unten drückte. Das zeigt der vorläufige Untersuchungsbericht. Zu dem Flugverbot („Grounding“) kam es erst nach den zwei verheerenden Unfällen. Seit März dürfen die Maschinen nicht mehr starten. Der US-Flugzeughersteller kämpft nicht nur mit einem Imageverlust, auch der wirtschaftliche Druck ist enorm. Das Grounding des Modells koste rund eine Milliarde Dollar, teilte Boeing mit. Die Produktion wurde gedrosselt.
Eine Milliarde Dollar Kosten
Es ist auch noch unklar, ab wann die Maschinen wieder starten dürfen. Die Software, die höchstwahrscheinlich schuld an den Abstürzen war, wurde nachgerüstet und wird nun getestet. „Wir konzentrieren uns auf die Sicherheit und wollen die 737 Max so schnell wie möglich zurück an den Start bringen und das Vertrauen unserer Kunden wiedergewinnen.“ Den 346 Toten und ihren Angehörigen nützt das freilich wenig. (ag./hie)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2019)