Groningen: Das Glück der Stadt im Hintergrund

Mit dem Rad durch Groningen
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Die Fahrradstadt Groningen ist einer der lebendigsten und liebenswertesten Orte Hollands. Ein Gros der Bewohner will laut Umfrage nirgendwo anders leben als dort. Die niederländische Stadt prägen Giebel aus dem Goldenen Zeitalter ebenso wie postmoderner Fassadendekor.

Sie kommen von links, sie sausen von rechts, sie schießen von hinten heran. Ratlos stehen die Besucher am Straßenrand und überlegen, wie sie nur in diesen sich kreuzenden Strömen unbeschadet die Straße überqueren sollen. Tausende Fahrradfahrer beherrschen den Verkehr, abgestellte Räder nehmen freie Plätze, Trottoirs und Hauswände ein. Eineinhalb Fahrräder besitzt jeder Einwohner Groningens im Schnitt, und man glaubt das sofort, wenn man die unterirdischen Parkhallen am Bahnhof sieht, wo allein 10.000 Exemplare Platz finden. Am besten wohl, man macht es wie die Nebenleute und stürzt sich mit einer Mischung aus Augenkontakt, entschlossener Körpersprache und Gottvertrauen auf den Zebrastreifen. Und es funktioniert: Wohlbehalten kommt man drüben an.

21 Theken, 50 Biersorten

Groninger lassen sich gern für ihre Bescheidenheit rühmen. Aber genauso gern schmücken sie sich mit ein paar Titeln. Mit 50.000 Studenten auf mehr als 230.000 Einwohner ist ihre Stadt die im Schnitt jüngste Hollands. Sie haben Einkaufsstraßen, die immer einmal wieder zu den schönsten des Landes gewählt werden. Ihre „Drie Gezusters“ gelten als das größte Beisl Europas: An 21 Theken zischen fünfzig Sorten Bier in die Gläser. Kein Wunder also, dass Groninger auch als die glücklichsten Menschen der Niederlande gelten: 97 Prozent würden einer Umfrage zufolge nirgendwo anders leben wollen.

Schon nach den ersten paar Stunden glaubt man, zu verstehen, warum. Die Altstadt ist ganz von Wasser umgeben. Sie erweist sich als sehr übersichtlich, alle Wege sind bequem zu Fuß zu erledigen. Autos sind im Kernbereich nur wenige unterwegs. Belebte Straßen voller Läden und Lokale wechseln mit stillen Parks wie dem Martinikirchhof. Mächtige Kornspeicher erheben sich neben Einfamilienhäusern, alt existiert neben neu. Fast alle Gebäude aber sind in einem Stil gebaut, der „irgendwie holländisch“ anmutet: Mit Fassaden in Backstein und gelbem Sandstein, Staffelgiebeln und großen Fenstern, die im seltensten Fall Vorhänge haben. Man muss sich öfter zur Ordnung rufen, um nicht den Blick ungehemmt in fremden Alltag schweifen zu lassen: Die Verstrubbelte, die gerade das Bett aufschlägt, trägt nachts also einen unvorteilhaften rosa Schlafanzug, das grauhaarige Paar im zweiten Stock prostet sich mitten am Tag mit Schampus zu. Klappbrücken, die für historische Segelschiffe aufgehen, Bäume an den Ufern und verrostete Seelenverkäufer, auf denen Studenten billig wohnen, schaffen Grachtenatmosphäre. Und welche Stadt leistet sich schon ein Pissoir, das ein Weltstar entworfen hat: Architekt Rem Koolhaas hat den Rundbau aus Milchglas mit blauen Silhouetten mit Figuren verziert, die Tänze aufführen.

Alternative zur Hauptstadt

Der Turm der St. Martinskirche gilt als das Wahrzeichen Groningens. Ihn, „de Olle Grieze“, den Alten Grauen mit seinen 127 Metern, kann man besteigen. Oben sitzt Auke de Boer, ein großer Schlaks in brauner Hose und rotem Pullover, an einem Pult, hämmert leidenschaftlich auf die Stöcke des Manuals und tritt mit Macht auf die Pedale des Glockenspiels. Als Belohnung für den Aufstieg beglückt er den Besucher mit einer glockenreinen Version von „Stairways to heaven“. Aber auch das „Ave Verum“ von Mozart wäre möglich, oder „Stars and Stripes forever“ – insgesamt 54 Titel hat er parat.

Auke de Boer ist nur einer der vielen, mit denen man unkompliziert ins Gespräch kommt. Ob die vier Tapezierer, die in der Sonne ihr Frühstücksbrot verzehren, die Kellnerin, die gähnend Tische aufstellt, oder der Gärtner, der im Prinzengarten den Buchs schneidet – fast jeder, dem man ins Gesicht blickt, lächelt auf eine erfrischend herzliche Art zurück. Amsterdam mit seiner wachsenden Touristen-Antipathie ist 147 Kilometer Luftlinie und ein paar Sphären weit entfernt.

Seit Gruoninga 1040 erstmals schriftlich erwähnt wurde, haben viele Epochen ihre Spuren hinterlassen. Die Kornbörse etwa, ein neoklassizistischer Bau von 1856, erinnert an die „Champagnerjahre“ Groningens. Kilometer um Kilometer wogten damals die Kornfelder bis zur deutschen Grenze. Bauern bauten Riesenhöfe, hielten Dressurpferde und beuteten ihre Arbeiter bis aufs Blut aus. Unter der filigranen Eisenkonstruktion der lichtdurchfluteten Halle bietet heute der Albert Heijn-Supermarkt „gekoelde dranken“ und viel Fleisch in viel Plastik an. Vor der Börse macht der „Vismarkt“, der Fischmarkt, seinem Namen alle Ehre: Von der heimischen Scholle über Oktopus aus Griechenland bis zu Barracuda aus Afrika liegen Flossenträger aus aller Welt in den Körben. Käsestände glänzen mit dem Komplettangebot des Käseparadieses Holland und an den Gewürzständen finden sich, historisch bedingt, Dutzende von Mischungen für Indonesische Reistafel und Bami Goreng.

Postmodernes Pissoir

Als modernes Wahrzeichen Groningens gilt das Kunstmuseum. 1994 eröffnet, ist das Konglomerat aus einem gelben Turm, türkisen Quadern und einem Backsteinpavillon mit aufgesetztem silbernen Zylinder eine Hommage an die kurze Blütezeit der Postmoderne, als alles möglichst bunt und schrill daherkam. Der eindrücklichste Teil der Sammlung sind die Werke der Künstlergruppe „de Ploeg“. Schon in den 1920er-Jahren haben die Maler die flache Landschaft rund um Groningen mit ihrem Riesenhimmel, den Wasserläufen und Schilfpartien in zappeligem Orange, düsterem Violett und ungesundem Grün auf die Leinwände gebannt. Ihrer Zeit weit voraus – Groningen war schon damals mit ganz vorne dran.

FLACHLAND

Übernachten: Asgard Hotel: Am Eingang zur Altstadt, günstig. www.asgardhotel.nl

NH Hotel de Ville: Nahe Großer Markt, barock-moderne Gemütlichkeit.

Essen/Trinken:Maurits Huis: Höchste Gemütlichkeitsstufe, gute Küche. www.maurits-huis.nl

T Feithhuise: Institution, von Senfsuppe bis High Tea. www.trestaurant-feithhuis.nl

T Pannekoekschip: Pfannkuchen von antillanisch bis chinesisch, 1908 gebauter Zweimaster. www.pannekoekschip.nl

Anschauen: Martiniturm: www.martinikerk.nl

Kunstmuseum: www.groningermuseum.nl

Info: www.tourism.groningen.nl

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2019)

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