„Gerechtigkeit allein ist nicht genug“

Der Campus Fryslˆan in Leeuwarden erhielt im September 2018 nach dreijähriger Aufbauphase den Status einer vollwertigen Fakultät der seit 1614 bestehenden Reichsuniversität Groningen. Künftig soll er um die 1000 Studierende aufnehmen.
Der Campus Fryslˆan in Leeuwarden erhielt im September 2018 nach dreijähriger Aufbauphase den Status einer vollwertigen Fakultät der seit 1614 bestehenden Reichsuniversität Groningen. Künftig soll er um die 1000 Studierende aufnehmen.Egbert de Boer
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Lokale Antworten auf globale Probleme und moralische Entscheidungen in der Politik sind der Forschungsfokus des Campus Fryslân, einer Zweigfakultät der Universität Groningen in Leeuwarden.

Thematisch habe er sich immer schon schwer eingrenzen können, gesteht Andrej Zwitter. „Die Welt ist voller spannender Forschungsfragen.“ Der Klagenfurter ist Professor für Governance und Innovation an der neuen friesischen Zweigfakultät der Reichsuniversität Groningen (Niederlande) und seit Jänner auch deren Dekan. Auf über 70 Publikationen, davon acht Bücher, hat der 37-Jährige seinen Namen stehen, diese reichen von humanitärer Hilfe, Völker- und Staatsnotstandsrecht bis zu politischer Philosophie und Theologie. Nicht zu vergessen, sein Fokus auf Klimawandel, Big Data und Blockchain-Technologie.

Einen roten Faden, der sich durch diese Arbeiten zieht, gibt es natürlich trotzdem: Es handelt sich meist um aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen, die der vielseitige Jurist aus rechtlicher und ethischer Sicht beleuchtet. Diese Neigung zeigte sich bereits in seiner Doktorarbeit an der Uni Graz: Damals, 2008, hat sich Zwitter der Bekämpfung der Wurzelursachen des Terrorismus auf Grundlage der Menschenrechte gewidmet. „Der Schlüssel ist Langzeitprävention, nicht Gewalt.“ 2016 warnte er als Mitautor des viel beachteten „Digital-Manifests“ vor der Aushöhlung der Demokratie durch Algorithmen und formulierte Prinzipien einer Big-Data-Ethik.

Humanistischer Beitrag

Der Campus Fryslân, so der Name seiner Fakultät, ist ein guter Ort für seine Anliegen. Forschung und Lehre sind multidisziplinär und darauf ausgerichtet, die Welt auf wissenschaftlicher Basis zu verbessern. Im Fokus stehen lokale Lösungen für globale Fragen. „Ob es nun um humanitäre oder Entwicklungskrisen, das soziale Zusammenleben oder Nachhaltigkeit und Umweltschutz geht: Wir sind an einem Punkt in der Geschichte, an dem wir merken, dass wir nicht mehr zurückkommen, wenn wir ihn überschreiten.“ In der Politik und Wirtschaft brauche es Leute, die sich dessen bewusst sind. In diesen Bereichen sollen Absolventen „einen Humanismus in die Welt tragen, der darauf basiert, dass wir alle im selben Boot sitzen und gut miteinander auskommen müssen“. Offiziell an den Start ging der Campus Fryslân nach dreijähriger Gründungsphase im September in Leeuwarden, der Hauptstadt der niederländischen Provinz Friesland. Zwitter war maßgeblich am Aufbau der Studienprogramme und des Datenforschungszentrums beteiligt. „Gerechtigkeit allein ist nicht genug“, so das Credo des jungen Dekans. „Unser Ansatz ist, dass man auch darüber hinaus Gutes bewirken muss.“

Wirtschaftsfaktor Forschung

Bereits seit elf Jahren forscht Zwitter in den Niederlanden. Mit 26 wurde er Assistenzprofessor an der Uni Groningen, drei Jahre später Professor für internationale Beziehungen und Ethik. „Als externer Student musste ich das Doktoratsstudium schnell durchziehen“, blickt er zurück. „Ein Jahr davon konnte ich mit einem Marie-Curie-Stipendium der EU an der Uni Bochum verbringen.“

Dort knüpfte er Kontakte zu Groninger Kollegen. „Weil diese Uni eine der Top-100-Universitäten weltweit ist, habe ich sie gebeten, mich über frei werdende Stellen zu informieren.“ Tatsächlich bot sich eine. „In den Bewerbungspapieren wurde aber fließendes Holländisch verlangt“, schmunzelt Zwitter. Damit habe er zu diesem Zeitpunkt nicht dienen können. Doch statt einer Absage kamen neue Unterlagen. „Darin forderte man fließendes Holländisch oder den Willen, es zu lernen.“ Heute beherrscht der passionierte Hobbyfotograf die Sprache perfekt, neuerdings gespickt mit ein paar Brocken Friesisch.

Gemeinsam mit der österreichischen Botschafterin in Den Haag setzt sich Zwitter dafür ein, dass sich die Forschungslandschaften Österreichs und Hollands näherkommen. „Den Niederländern liegt Innovation im Blut, das hat mir von Anfang an gefallen.“ Mit Big Data und Zukunftsfragen beschäftige man sich dort nicht erst seit ein paar Jahren. „Hier packt man diese Themen früh und gründlich an.“ Holland habe um die Jahrtausendwende beschlossen, auf Knowledge Economy zu setzen und Wissensexporteur zu werden. „Forschung und Entwicklung sind hoch angesehen, die Jugend wird stimuliert, und ausländischen Talenten bietet man super Konditionen.“ Obwohl Österreich in jüngster Zeit viel mehr in die Unis investiert habe als Holland mit seinen zwei Prozent des Bruttonationalprodukts, lägen die Holländer bei Rankings vorn. Den Grund sieht er in der Langfristigkeit der Investitionen.

Aktuell forscht Zwitter für ein EU-Projekt zu den Auswirkungen und Reduktionsmöglichkeiten von Kleinkriminalität. Hierbei kooperieren etliche internationale Universitäten und Polizeiorganisationen. „Wir bringen unsere Expertise zum Thema vorhersagende Polizeiarbeit ein, die zur Einsatzplanung Statistiken nutzt. Und dazu, wie die Polizei mit Menschen umgeht.“ So sehe sein Team sich an, wie bestehende Vorurteile gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen in diese Daten einfließen. „Wir wollen gute Richtlinien erarbeiten. Solche, die nicht nur die Effizienz vorhersagender Polizeiarbeit, sondern auch deren Fairness erhöhen.“ [ Foto: Reiny Bourgonje]

ZUR PERSON

Andrej Zwitter (37) beschäftigt sich mit der Regulierung gesellschaftlicher Herausforderungen wie u. a. durch Big Data oder die Blockchain-Technologie. Er studierte Jus an der Uni Graz und dissertierte dort 2008. Nach der Promotion wurde er Assistenzprofessor an der Uni Groningen (NL) und 2012 Stiftungsprofessor für internationale Beziehungen und Ethik. Aktuell ist er Professor für Governance und Innovation an der Fakultät Campus Fryslân der Uni Groningen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2019)

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