Kommentar

Abschied von der Demokratie

APA/AFP/BULENT KILIC
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Die Entscheidung der türkischen Wahlkommission zeigt erschreckend deutlich, wie es um das Demokratieverständnis der regierenden Partei und ihres Übervaters Erdoğan bestellt ist.

Die versöhnlicheren Töne waren nur leere Worte. Nach der Ernennung des Oppositionskandidaten Ekrem Imamoğlu zum Bürgermeister von Istanbul durch die türkische Wahlkommission Mitte April hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan von seinen Betrugsvorwürfen kurzzeitig abgelassen und dazu aufgerufen, „die Brenneisen abzukühlen, Hände zu schütteln und die Einheit zu stärken“.

Jetzt aber zeigt sich, dass Erdoğan keineswegs bereit ist, den Gesichtsverlust hinzunehmen, den ihm die Niederlagen in der Hauptstadt Ankara und seiner Heimatstadt Istanbul bei den Kommunalwahlen am 31. März beschert haben. Auf Antrag seiner Regierungspartei AKP hat die Wahlkommission die Abstimmung in Istanbul annulliert und eine Wiederholung angeordnet.

Angesichts des massiven Drucks, den die AKP bis zuletzt auf die Wahlkommission ausgeübt hat, darf deren Unabhängigkeit getrost bezweifelt werden. Und die Entscheidung zeigt erschreckend deutlich, wie es um das Demokratieverständnis der regierenden Partei und ihres Übervaters Erdoğan bestellt ist: Es wird so lange gewählt, bis das Ergebnis stimmt. Mit freien Wahlen und Respekt vor dem Wähler hat das nichts mehr zu tun. Der türkische Präsident, der bereits Justiz und Medien am Gängelband hat, wird immer mehr zu dem „Diktator“, den die Opposition bereits in ihm sieht.

E-Mails an: julia.raabe@diepresse.com

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