1989 und die Folgen: Ein Aufbruch, der in der Autokratie endet?

Errungenschaften des Annus mirabilis drohen zu erodieren. Aber man sollte sich doch auch das Gesamtbild anschauen.

Dreißig Jahre ist es her, dass in Mittelosteuropa das kommunistische Herrschaftssystem kollabierte, Grenzmauern einstürzten, Stacheldrahtzäune eingerollt wurden. Als „Annus mirabilis“, als Jahr der Wunder, bezeichnete der Historiker und spätere polnische Außenminister Bronisław Geremek 1989 im Gespräch mit der „Presse“. Tatsächlich waren die Ereignisse dieses Jahres atemberaubend, sie verliefen für eine derartige revolutionäre Umwälzung auch ungewöhnlich unblutig. Aber wenn man sich die damalige Euphorie, die West und Ost gleichermaßen erfasste, in Erinnerung ruft, wird auch klar, wie sehr damals das Wunschdenken die nüchterne Analyse übertrumpfte: „Historiker und Journalisten, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Philosophen haben übersehen, wie kompliziert und frustrierend die Loslösung von einer diktatorischen Vergangenheit ablaufen würde“, schreibt Vladimir Tismaneanu, Professor an der Universität Maryland, in einem Essay in der US-Zeitschrift „Current History“ (3/2019).

Aber historische Umbrüche folgen eben keinem „teleologischen Liberetto“, wie Tismaneanu festhält. Er erwähnt das Beispiel des ungarischen Politikers Viktor Orbán, der 1989 als junger, liberaler, antikommunistischer Rebell für Furore sorgte und dann eine Metamorphose zum rechtspopulistischen Nationalisten durchmachte, der mit den Autokraten und Diktatoren der Welt viel besser auskommt als mit seinen EU-Regierungskollegen. Jedoch: „Solche Metamorphosen widerspiegeln nur die psychologischen und sozialen Komponenten der postkommunistischen Verwirrung.“

Tismaneanu hatte 2006 die offizielle Kommission geleitet, deren Aufgabe es war, die kommunistische Diktatur in Rumänien zu analysieren, und deren Erkenntnisse dann von den postkommunistischen Eliten heftig kritisiert wurden. Doch er ließ sich nicht beirren und zitiert den polnischen Philosophen Leszek Kołakowski: „Die Lüge ist die unsterbliche Seele des Kommunismus.“ Tismaneanu folgert daraus: „Eine robuste und vitale liberale Ordnung kann nicht auf einem Haufen von Lügen errichtet werden.“ Gerade das politische Geschehen im heutigen Rumänien, wo Machtgier, Korruption und Vetternwirtschaft den Staat und die Gesellschaft von innen zersetzen, zeigt die Richtigkeit dieser Erkenntnis.

Beginnen die Errungenschaften der Jahre nach 1989 zu erodieren? Ist der Aufbruch von 1989 gescheitert, fragt auch Frank Otto in einem Aufsatz im Geschichte-Magazin „Geo Epoche“ (Nr. 95), das sich 1989 und den Folgen widmet. Das Heft ist wieder großartig konzipiert, hat zwar eindeutig einen sowjetischen/russischen Schwerpunkt, aber widmet sich auch anderen bedeutenden Ereignissen, wie dem Jugoslawienkrieg: „Mitten in einer Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung, die Mittelosteuropa nach einer Welle friedlicher Revolutionen erfasst hatte, kehrte der Krieg mit archaischer und verstörender Wucht auf den Kontinent zurück.“

Otto verweist auf die Krise der liberalen Demokratie, den Aufstieg der Populisten in Ost und West, auf die Bedrohung durch den großrussischen Imperialismus Wladimir Putins und die noch nie dagewesene Herausforderung der EU durch den Brexit. Otto warnt aber davor, angesichts des aktuellen Blicks auf diese Gefahren das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Der wesentliche Erfolg von 1989 sei doch: „Zum ersten Mal in der Geschichte leben die Menschen vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, von Finnland bis Kreta in persönlicher und politischer Freiheit. Das sind weitaus mehr als eine halbe Milliarde Europäer.“

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2019)

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