Der Depressive und die Prostituierte: Feinfühliges Liebesdrama "Anything"

Kinostar
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Mit „Romeo und Julia“ oder „Pretty Woman“ ist dieser Film nur bedingt vergleichbar, auch wenn die Prämisse ähnlich ist: Der unverwechselbare John Carrol Lynch spielt einen Witwer, der sich - zum Missfallen seiner Familie - in eine transsexuelle Sexarbeiterin verliebt.

Der ausgebildete Theaterschauspieler John Carroll Lynch hat schon Superstars wie John Travolta, Bruce Willis oder Leonardo DiCaprio die Schau gestohlen. Die Besonderheit an ihm: Er macht nicht viel, aber das mit großer Präzision. Sein endomorpher Körperbau, dazu die Glatze auf seinem kugelrunden Kopf, der neutrale Gesichtsausdruck, der introvertierte Gestus - im Ganzen ergibt das eine Präsenz, deren unverwechselbarer Reiz darin begründet liegt, dass Lynch durch seinen massigen und großgewachsenen Leib zwar automatisch den Raum einnimmt, aber durch seine Zurückgenommenheit dennoch fast unsichtbar wirkt. In „Anything“, dem ersten größeren Film, in dem der normalerweise auf Nebenrollen abonnierte Charakterdarsteller die Hauptrolle spielt, kommt das besonders zur Geltung.

Lynch verkörpert einen Witwer, den die Trauer um seine jüngst bei einem Autounfall verstorbene Frau vom Romantiker zum Melancholiker werden ließ. Ein zärtlicher Riese mit verletzter Seele, der ganz klein und verloren wirkt, wenn er sich mit ins Nichts starrenden Augen durch verlassene Orte schleppt. Dem Klischee vom wehleidigen Sentimentalisten oder tiefsinnigen Pathetiker entspricht er dabei nicht. Sein Leiden wirkt eher wie die Folge einer unbrauchbar gewordenen Sensibilität und erhöhten Liebesfähigkeit, der ihr bevorzugtes Gegenüber abhanden gekommen ist.

Die Inszenierung durch den Schauspieler Timothy McNeil, der den Stoff bereits vor 12 Jahren als Theaterstück auf die Bühne brachte, ist genauso dezent wie die subtile Spielweise von Lynch, der seiner Figur nie etwas Pathologisches oder Manisches beimischt, selbst wenn sie in Übersprungshandlungen ihrer Todessehnsucht nachgibt.

Heilung bringt nicht die übliche Frauenrolle

Als die überbesorgte Schwester den schwermütigen Südstaatler nach seinem ersten Suizidversuch zum Umzug nach Los Angeles bewegt, bekommt er die Unbeholfenheit ihrer wohlsituierten Freunde im Umgang mit seiner Depression zu spüren und besorgt sich daraufhin eine Bleibe in einer sozialen Brennpunktgegend innerhalb von Hollywood. Die unvermeidbare Zufallsbegegnung, die einen Heilungsprozess in Gang setzt, fällt gleichwohl anders aus als in vergleichbaren Liebesfilmen, die zunächst als Ballade über alleinstehende, in Verlustschmerz versinkende Eigenbrötler beginnen: Early trifft keine aufgeweckte Optimistin, die ihn ins Leben zurück katapultiert oder auf ein melancholisches Äquivalent seiner selbst in weiblicher Gestalt. Er lernt die als Sexarbeiterin tätige Trans-Frau Frieda (Matt Bomer) kennen, die aus Angst vor gewohnheitsmäßig erfahrener Ausgrenzung und Zurückweisung zunächst unwirsch und misstrauisch auf seine ernst gemeinten Zuneigungsbekundungen reagiert.

Ungeachtet aller Vorhersehbarkeit, die das beschwerliche Zueinanderfinden des ungleichen Paares begleitet – vom Zerwürfnis mit der latent engstirnigen Schwester bis hin zu den missgünstigen Reaktionen der Kolleginnen von Frieda – ist „Anything“ allerdings keine weitere Wiederaufbereitung von „Romeo und Julia“ und „Pretty Woman“, obwohl er mit dem oft verfilmten Shakespeare-Drama die Huldigung der Liebe als eine Kraft zur Überwindung gesellschaftlich gesetzter Schranken und mit der kitschigen Aschenputtel-Adaption die Tendenz zur Beschönigung des in Wirklichkeit viel raueren Straßenstrichs teilt.

Sexuelle Kompatibilität kümmert sie nicht

Davon abgesehen besteht die Besonderheit des feinfühligen Dramas, das endet, bevor es zum Beischlaf zwischen den beiden kommt, aber darin, dass es für sie selbst egal zu sein scheint, ob sie ihre sexuellen Identitäten für kompatibel halten oder nicht. Kein einziger Konflikt, den sie austragen, entzündet sich an dieser bloß für die anderen entscheidenden Frage.

Early und Frieda erkennen ihre Zuneigung füreinander, als sie sich dem jeweils anderen gegenüber als verletzt und verletzlich offenbaren. Sie brechen in Tränen voreinander aus, zeigen sich ihre Wunden und fassen langsam, aber stetig Vertrauen zueinander. So gewinnen sie eine authentische amouröse Expressivität zurück, die nicht geschlechtlich, sondern menschlich definiert ist. Und die umso rührender anmutet, wenn sie ausgerechnet den starren Gesichtszügen von John Carrol Lynch entweicht.

"Anything“ läuft jetzt im Kino.

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