Europas Qual mit bekannten Unbekannten

Enth�llung der von K�nstler Christoph Niemann neugestalteten Installation der Personenunterf�hrung
Enth�llung der von K�nstler Christoph Niemann neugestalteten Installation der Personenunterf�hrung(c) imago/tagesspiegel (Thilo R�ckeis TSP)
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Brexit, Europawahl, Donald Trump – die EU wird sich wandeln, und das unabhängig davon, ob die Europäer es wollen oder nicht.

Donald Rumsfeld haben wir die Einsicht zu verdanken, dass es bekannte Unbekannte sowie unbekannte Unbekannte gibt. Bei Ersteren handelt es sich um „Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen“, wie es der einstige US-Verteidigungsminister formuliert hat. Die zweite Kategorie wiederum umfasst „Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen“. Die hohe Kunst des Regierens besteht demnach darin, so lang zwischen den weißen Flecken auf der kognitiven Landkarte zu navigieren, bis die Wissenslücken gestopft sind.

Legt man den Rumsfeld'schen Maßstab an die EU an, muss man unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass Europa momentan mit einem Überschuss an bekannten Unbekannten zu kämpfen hat. Der Bewegungsspielraum entlang der vertrauten Bahnen wird von Tag zu Tag kleiner. Wir wissen, dass die tektonischen Platten, auf denen die EU gebaut ist, in Bewegung geraten sind. Wir wissen auch, dass uns in naher Zukunft mindestens drei Erschütterungen bevorstehen. Was wir allerdings nicht wissen, ist die genaue Zeit und der Ort, an dem es beben wird.

Die erste Erschütterung geht von Großbritannien aus. Seit dem Referendum über die EU-Mitgliedschaft sind drei Jahre vergangen, und mehr als den armseligen Stehsatz „Brexit means Brexit“ können die Tories und ihre Premierministerin, Theresa May, bis dato nicht vorweisen. In London scheint man den Austritt aus der EU als eine rein innerbritische Angelegenheit zu begreifen, doch er betrifft ganz Europa. Gehen die EU-Wahlen, an denen Großbritannien nolens volens teilnehmen muss, wie prognostiziert aus, dann werden die Brexit-Edelproleten rund um Nigel Farage die stärkste britische Fraktion im neuen Straßburger Plenum stellen.

Der Anblick von Großgrundbesitzern, Rentiers und sonstigen Patriziern, die sich als Straßenkinder verkleiden und mit vergoldeten Mistgabeln nach Europa aufbrechen, um es „denen da oben“ zu zeigen, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Leider ist die Sache insofern ernst zu nehmen, als der Brexit die Arterien der Europapolitik verstopft. Anstatt die Zukunft der Union zu planen, lässt man in Brüssel die britische Nummernrevue über sich ergehen – in der Hoffnung, dass der Brexit-Flohzirkus vorbei sein wird, bevor seine Dompteuse in der Downing Street 10 der Exitus ereilt.

Daran knüpft die zweite bekannte Unbekannte an: die künftige Arbeitsweise der Union. Dass sich die EU wandeln wird, liegt nicht nur aufgrund der Höhe des britischen Beitrags zum EU-Budget auf der Hand. Abseits des Brexit-bedingten Sparzwangs wird die Europawahl den Wandel beschleunigen, denn die Fragmentierung der Parteienlandschaft macht vor den Mehrheitsverhältnissen im EU-Parlament nicht halt. Hinzu kommt Italien, das demnächst den Stabilitätspakt einer maximalen Belastungsprobe unterziehen dürfte, sowie Polen, Ungarn und Rumänien, die dasselbe mit den europäischen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit vorhaben.

Ob das Material, aus dem die EU gebaut ist, die Probe besteht, ist offen – denn drittens bauen Donald Trump, Wladimir Putin und Xi Jinping Außendruck auf. Während die USA der EU als Partner abhandenkommen, wecken ihr Wohlstand und ihre relative Schutzlosigkeit Begehrlichkeiten in China und Russland. Können die Europäer gegensteuern? Ja, indem sie alles daransetzen, ihre strategische Autonomie auszubauen: in wirtschaftlicher Hinsicht durch die Vollendung der Bankenunion, um zu verhindern, dass die Eurozone zur Geisel populistischer Schuldenmacher wird; nach außen durch möglichst gute Beziehungen zu Großbritannien post Brexit und durch ein engmaschiges Netz aus Handelsabkommen und im Inneren durch eine kluge Allianz liberal-europafreundlicher Kräfte nach der Europawahl.

Ob der Weg dorthin tatsächlich über die Streichung von tausend EU-Verordnungen führt, wie von Bundeskanzler Sebastian Kurz postuliert, sei dahingestellt. Es können auch 500 sein – Hauptsache mit Maß und Ziel und nicht aus innenpolitisch geschuldetem Aktionismus. Denn bekannte Unbekannte lassen sich nicht mit dem Rotstift übermalen.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2019)

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