Serie „Chernobyl“ im Free-TV: Ein Blick in die nukleare Hölle von 1986

Lyudmilla (Jessie Buckley) sucht im Krankenhaus nach ihrem Mann Vasily, der bei einem Feuerwehreinsatz nach der Reaktorkatastrophe verstrahlt wurde.
Lyudmilla (Jessie Buckley) sucht im Krankenhaus nach ihrem Mann Vasily, der bei einem Feuerwehreinsatz nach der Reaktorkatastrophe verstrahlt wurde. (c) ©Sky UK LTD/HBO
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Dunkle Erinnerungen an die Reaktorkatastrophe und die Zeiten des Eisernen Vorhangs: Der ORF zeigt am heutigen Montag alle fünf Folgen der preisgekrönten Mini-Serie „Chernobyl“.

Erst eine nächtliche Explosion. Dann der Feuerschein in der Ferne. Die Menschen im ukrainischen Prypjat hatten keine Ahnung, was an diesem 26. April 1986 im nahen Atomreaktor passiert war. Viele pilgerten zu einer nahen Brücke, von wo aus man das Schauspiel besser beobachten konnte, das sich vier Kilometer entfernt abspielte. Heute nennt man das verrostete Überbleibsel in der Geisterstadt die Todesbrücke. Denn keiner der Schaulustigen soll die Nuklearkatastrophe überlebt haben.

Diese Szene ist einer der vielen einprägsamen Momente in der HBO/Sky-Miniserie „Chernobyl“, die die historischen Fakten anhand der Schicksale zentraler Protagonisten dramatisiert. Selbst die Techniker in der Schaltzentrale des Reaktors unterschätzten die Situation gewaltig. Es war eine Verkettung fataler Umstände, die zur Katastrophe führte: Fehlentscheidungen, Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften, Geheimniskrämerei des Parteiapparats und die problematische Konstruktion des Reaktors selbst.

Schwerpunkt im ORF

Bald ist es 35 Jahre her, dass sich im damals noch sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 ein schwerer Atomunfall ereignete. Der ORF zeigt im Vorfeld des Jahrestags alle fünf Folgen der preisgekrönten Mini-Serie "Chernobyl" als deutschsprachige Free-TV-Premiere.

ORF 2 und ORF III warten dagegen mit Dokumentationen auf. So ist am 23. April um 22.35 Uhr etwa "Das Tschernobyl-Vermächtnis" von Tetyana und Alexander Detig auf ORF 2 zu sehen. ORF III widmet dem Atomunfall am 24. April einen dreiteiligen "zeit.geschichte"-Abend. Den Start macht "Die wahre Geschichte von Tschernobyl", gefolgt von "Strahlende Tage". "Fukushima - Tagebuch einer Katastrophe" blickt zum Abschluss auf einen jüngeren ähnlich gelagerten Vorfall in Japan im Jahr 2011 zurück.

300.000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen (auch dazu gibt es eine berührende Szene mit einer alten Bäuerin, die nicht aufhören will, ihre Kuh zu melken). Wind und Niederschläge verbreiteten das radioaktive Material über Europa – es dauerte einige Zeit, bis das ganze Ausmaß dessen, was da hinter dem Eisernen Vorhang passiert war, bekannt wurde. Österreich war stark betroffen – das hat sich tief ins Gedächtnis hineingefressen: Kinder sollten nicht in Sandkästen spielen, Milch, Salat und Fleisch durften nicht verkauft werden, vom Pilzesammeln wurde noch Jahre später abgeraten. Doch von dem, was Arbeiter und Anrainer durchlebten, erfuhr man lange nichts. Geschätzte 4000 bis 90.000 Menschen (je nachdem, ob man Spätfolgen mitrechnet) starben an der Verstrahlung.

Sterben wie im Horrorfilm

Auch das spart „Chernobyl“ nicht aus. Der 25 Jahre alte Feuerwehrmann Vasily Ignatenko etwa wurde mit dem ersten Trupp auf das brennende Dach geschickt – er starb nur zwei Wochen später. Im Film sieht er zum Schluss aus wie aus einem Horrorfilm: Die Haut löst sich ab, die Arme sind schwarz vor innerlich gestocktem Blut, der Mund eine Öffnung zwischen Blasen und Wunden. Kurz vor dem Ende sei es nicht einmal mehr möglich, den Opfern Morphium zu verabreichen, weil Venen und Arterien undicht werden, erklärt Wissenschaftler Waleri Legassow in einer Szene. Er war Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, setzte sich für die Aufklärung des Unfalls und eine rasche Evakuierung der Bevölkerung ein. Am zweiten Jahrestag der Katastrophe beging er Selbstmord. Er hinterließ Aufnahmen, die dazu beitrugen, dass Reaktoren gleicher Bauart nachgebessert wurden.

„Chernobyl“ ist ein Atom-Thriller: eindrucksvoll und erschütternd. In fünf Teilen erzählt die Serie vom menschlichen und politischen Versagen und einer Führungselite, die auf die eigene Karriere oder den Ruf der UdSSR schaute statt auf das Wohl der Bevölkerung. Ein düsteres Szenario, das unangenehme Erinnerungen weckt – nicht nur an die Katastrophe selbst, auch an die dumpfe Furcht vor einer atomaren Auseinandersetzung zwischen Ost und West.

Schauspielerisch ist „Chernobyl“ top besetzt – mit Jared Harris („The Terror“, „Mad Men“) als Atomexperte Legassow, Stellan Skarsgård („Mamma Mia!“) als stv. Premierminister und Emily Watson als Wissenschaftlerin. „Chernobyl“ wäre unerträglich, wären da nicht auch Mut, Mitgefühl, Menschlichkeit. Auch die gab es wirklich, als damals alles schief gelaufen ist im Reaktor Nummer 4.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2019)

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