Warum braucht es das Europäische Parlament? Es ist groß, behäbig, aber auch dynamisch, weil es in dieser Volksvertretung weder eine Regierungspartei noch eine Opposition gibt. Von der Sittlichkeit demokratischer Balance.
Es wirkt wie ein riesiger bürokratischer Moloch. In seinen Gängen löst sich selbst die beste Orientierungsfähigkeit in Unsicherheit auf: Das Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel wurde immer wieder erweitert, aber so wie die Europäische Union als Ganzes, wird es wohl nie fertiggestellt sein. Schon wird über einen völligen Neubau nachgedacht. Dabei ist es nicht einmal das einzige Gebäude, in dem die Volksvertretung der Union beheimatet ist. Es gibt auch noch ein paralleles Gänge-Labyrinth in Straßburg und ein Verwaltungsgebäude in Luxemburg. Selbst eine Mehrheit der Abgeordneten wünscht sich, dass dieses Parlament künftig nur noch an einem Standort arbeitet, doch die EU-Verträge stehen der Vernunft einstweilen entgegen. Drei Standorte, 751 Abgeordnete, 24 Amtssprachen: Wer könnte da vermuten, dass dieses Abgeordnetenhaus dennoch noch flexibel agiert?
Das Europaparlament hat seit seinem ersten Zusammentreten 1952 stetig an Einfluss gewonnen. War es zuerst nur ein beratendes Organ aus Abgesandten der nationalen Parlamente, bestimmte es mit der Zeit immer größe Teile der Gemeinschaftspolitik mit. Seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags 2009 umfasst dies fast alle Politikbereiche der EU – von Binnenmarktregeln über Handelsabkommen bis zur Zusammenarbeit von Polizei und Justiz. Neben dem Rat der EU, dem Gremium der EU-Regierungsvertreter, ist es das zweite wichtige Legislativorgan der Gemeinschaft. Rund 1200 Gesetzesbeschlüsse hat es allein in der vergangenen Legislaturperiode gefällt, dazu kamen hunderte weitere politische Entscheidungen und mindestens ebenso viele Resolutionen.
Obwohl die aus 28 Ländern stammenden Abgeordneten allein wegen ihrer unterschiedlichen Sprachen und ihrer divergierenden politischen Ideologien eigentlich eine natürliche Trägheit in die Parlamentsarbeit einbringen müssten, agieren sie überraschend effizient. Da es nämlich keine Regierungspartei und keine Opposition gibt, hat jeder Mandatar die Möglichkeit, für seine Anliegen ausreichend Unterstützung zustande zu bringen. Das schafft eine Dynamik, angetrieben durch individualistischen und idealistischen Willen. Auch der Klubzwang ist deutlich lockerer als beispielsweise im österreichischen Nationalrat. Hier mischen sich nationale und ideologische Interessen, deshalb wird die Suche nach Kompromissen spannender und vielschichtiger. Das macht das Europaparlament letztlich auch zum Garant für Konsens und Ausgleich.
Das EU-Parlament bewegt viel
Ohne Europäisches Parlament bewegt sich in der EU mittlerweile nichts mehr. Wenn es den Abgeordneten widerstrebt, können sie auch einmal eine wichtige Neuregelung völlig kippen – wie etwa das multilaterale Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen (ACTA) 2012 oder die Saatgut-Verordnung 2014. Während nationale Parlamente bis zu 80 Prozent der Regierungsvorlagen durchwinken, ändern die Europaabgeordneten fast gleich viele Gesetzesvorlagen ab. Deshalb muss oft mühevoll gemeinsam mit dem Rat der EU und der EU-Kommission eine Einigung erzielt werden.
Das EU-Parlament agiert automatisch für gemeinschaftliche europäische und gegen rein nationale Interessen. Das ist mit ein Grund, warum es von nationalistischen Kräften in Frage gestellt wird. Zu den legislativen Befugnissen kommen Kontrollbefugnisse, die vom EU-Parlament ebenso ausgeschöpft werden. Die Abgeordneten kontrollieren nicht nur die Haushaltsführung der EU-Kommission, sie bestimmen auch über deren Top-Posten mit. Wenn einzelne vorgeschlagene Kommissare bei ihrem Hearing vor den Abgeordneten nicht entsprechen, müssen sie ausgetauscht werden.
1999 sorgte das Parlament sogar für den Rücktritt der gesamten EU-Kommission. Dass dieses Parlament nicht davor zurückschreckt, sich sogar gegen einzelne Mitgliedstaaten zu stellen, wurde zuletzt bei der Einleitung eines sogenannten Artikel-7-Verfahrens gegen Ungarn wegen Unterwanderung des Rechtsstaats deutlich. Das Verfahren kann bis zur Suspendierung der Mitentscheidungsrechte des Landes führen.
Was das Europäische Parlament von nationalen Parlamenten in seinen Befugnissen unterscheidet, ist vor allem das Initiativrecht. Die Abgeordneten können selbst zwar eine neue EU-Regelung anregen, sie aber allein nicht vorbereiten. Die Befugnis dafür hat einzig die EU-Kommission. Sie arbeitet die Erstfassung aller Vorschläge aus. Aber dieses Parlament trägt zu einer Gewaltenteilung auf europäischer Ebene bei – einer gegenseitigen Balance von Regierungen, gemeinsamer Verwaltung und ihren direkt gewählten Volksvertretern.
„Die Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sittlichkeit“, sagte einmal der ehemalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt. Würde das Europäische Parlament nicht bestehen, keinen Machtausgleich auf europäischer Ebene garantieren, wer würde dann über die gemeinsame Politik dieser Gemeinschaft bestimmen? Es wären allein die Vertreter der EU-Regierungen, die in den meisten Fällen nicht direkt gewählt sind. Sie würden hinter verschlossenen Türen im Rat der EU ihre Entscheidungen treffen – ohne Kontrolle, Transparenz und Gegengewicht. Das wären die optimalen Voraussetzungen für einen politischen Basar unterschiedlicher innenpolitischer Interessen, der im Sinne Brandts vielleicht manchmal für den eigenen Machterhalt zweckmäßiger, mit großer Wahrscheinlichkeit aber nicht sittlicher wäre.
Umfang der Mitentscheidung
Das Europäische Parlament ist neben dem Rat der EU das wichtigste Legislativorgan der Gemeinschaft. Die direkt gewählten Abgeordneten entscheiden gleichberechtigt bei fast allen Politikfeldern mit, wenige Ausnahmen gibt es in der Außen- und Wettbewerbspolitik. In der Legislaturperiode 2014 bis 2019 entschied das Parlament über 1128 EU-Gesetze (neue und geänderte Richtlinien und Verordnungen), es behandelte dabei 32.231 Änderungsanträge. Insgesamt tagten die Abgeordneten 2003 Stunden im Plenum, ein Vielfaches davon in Ausschüssen.