Straßburg und Brüssel

Warum das Parlament nicht an einem Ort tagt und wie es dazu kam

(c) Getty Images (Christopher Furlong)
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Die zwölf jährlichen Reisen des gesamten Parlaments nach Straßburg sind Ergebnis puren Zufalls, nicht bewusster politischer Symbolik. Sie werden zusehends zum Mühlstein in der Außendarstellung.

Zwölfmal im Jahr machen sich acht große Lastwagen aus der Tiefgarage des Europäischen Parlaments in Brüssel auf die mehr als sechsstündige Fahrt nach Straßburg. Ihre Fuhre: schwere Kunststofftruhen – auf Französisch „Cantine“ genannt –, womit man früher auch militärische Feldkoffer bezeichnete. Ihr Inhalt: sämtliche Akten und Büromaterialien, welche die Abgeordneten und ihre Assistenten, die Sekretariatsmitarbeiter, Dolmetscher und sonstigen Mitarbeiter des Parlaments für die viertägigen Plenarwochen in Straßburg benötigen. Gleichfalls machen sich diese rund 5000 Menschen auf den Weg ins Elsass.

Dieser zwölfmalige Reiseaufwand ist mühselig. Und er ist teuer. Mindestens 114 Millionen Euro pro Jahr könnte man den europäischen Steuerzahlern ersparen, wenn das Parlament nur mehr in Brüssel tagte und sein Straßburger Sitz geschlossen würde. Das wären mehr als sechs Prozent des jährlichen Parlamentshaushaltes. Nicht nur die Reisekosten fielen weg; der Straßburger Bau muss auch rund um das Jahr beheizt und belüftet werden, obwohl er nur an 48 Tagen im Jahr benutzt wird. Dazu käme die einmalige Ersparnis von 616 Millionen Euro, wenn das Gebäude in Straßburg verkauft werden könnte.

Frankreich hält verbissen am Standort Straßburg fest

Diese Schätzungen des EU-Rechnungshofes sind mittlerweile fünf Jahre alt. Ein Jahr davor schon stimmte die überwiegende Mehrzahl der Abgeordneten dafür, den Standort Straßburg zu schließen: mit Dreiviertelmehrheit sprachen sie sich dafür aus, dass die nationalen Regierungen einen Fahrplan für die Konzentration des Parlaments auf den Standort Brüssel vorlegen sollen. Geschehen ist seither nichts – im Gegenteil: Die französische Regierung zog sogar deshalb vor den Gerichtshof der EU, weil das Parlament seinen Budgetbeschluss für das Jahr 2017 während einer der beiden zweitägigen Miniplenarsitzungen in Brüssel gefällt hatte und nicht in Straßburg (der EuGH gab dem Parlament im Oktober 2018 recht). Frankreich hält verbissen am Standort Straßburg fest – über alle ideologischen Grenzen hinweg. Sogar der reformfrohe Staatspräsident Emmanuel Macron hat bereits erklärt, dass er zu keinem Einlenken bereit sei. „Straßburg ist ein Symbol für die Versöhnung unseres Kontinents“, schrieb er Anfang April an den Präsidenten der französischen Region Grand Est, in der die Stadt liegt.

Französische Politiker beschwören gern den Symbolcharakter Straßburgs als Scharnier zwischen den einstigen Erzfeinden Deutschland und Frankreich, um am Parlamentssitz und somit am aufwendigen Reisezirkus festzuhalten. Doch die historischen Fakten belegen, dass diese heutige Situation kein Ausfluss einer bewussten politischen Entscheidung war.

Sie erfloss vielmehr aus Zufällen und der Verfestigung provisorischer Zwischenlösungen. Denn streng genommen beginnt die Geschichte des Parlaments nicht in Straßburg, sondern in Luxemburg. Dort siedelten Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und eben Luxemburg im Jahr 1952 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) an – die Keimzelle dessen, was wir heute als EU kennen. Diese Montanunion hatte auch eine parlamentarische Versammlung. Doch wo sollte sie tagen? Im Großherzogtum, wo ihr Sekretariat saß, gab es keine geeigneten Räumlichkeiten. Der drei Jahre zuvor gegründete Europarat hingegen hatte in Straßburg einen großen Plenarsaal. Also begann die parlamentarische Versammlung der EGKS in Straßburg zu tagen – aus Pragmatismus, nicht mit politisch-symbolischen Hintergedanken.

15 Jahre später: Der EG-Fusionsvertrag tritt 1967 in Kraft, vereint die EGKS mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Atomgemeinschaft – und er macht aus der Parlamentarischen Versammlung das Europäische Parlament. Der Vertrag legt Luxemburg, Brüssel und Straßburg als temporäre Standorte für die Arbeit dieses Parlaments fest, das immer noch nicht direkt gewählt, sondern von Delegierten der nationalen Volksvertretungen bestellt wird. Sein Generalsekretariat befindet sich weiterhin in Luxemburg. Wäre es nicht auch logisch, die politisch zunehmend wichtigeren Ausschusssitzungen und Plenartagungen hier abzuhalten? Schon 1965 wurde begonnen, mit der Luxemburgischen Regierung Verhandlungen über den Bau eines Plenarsaales zu führen. Der wurde am 12. Februar 1973 eingeweiht, Kommissionspräsident François-Xavier Ortoli stellte das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission vor. Vor allem in Frankreich kam es sofort zu Befürchtungen, der mittlerweile liebgewonnene Standort Straßburg könnte schrittweise aufgegeben werden.

Alles zusätzlich

Doch Parlamentspräsident Walter Behrendt kalmierte: „Es geht keineswegs darum, unsere politische Präsenz in Straßburg abzubauen. Es geht vielmehr 1973 wie schon in den vergangenen Jahren darum, den zusätzlichen und laufend steigenden Arbeitsanfall, der das Parlament zu immer häufigeren Sitzungen zwingt, auf eine möglichst ökonomische Weise zu bewältigen.“

Bis 1979 tagte das Parlament 35 Mal in diesem neuen Saal in Luxemburg, ungefähr gleich oft in Straßburg. Die ersten direkten Wahlen werteten seine (wenn auch vorerst noch sehr beschränkte) Rolle in der Gesetzgebung der EG auf. Um näher an der politischen Macht zu sein, die nun eindeutig in Brüssel saß, beschloss es, seine Ausschüsse ebenfalls in der belgischen Hauptstadt tagen zu lassen. 1981 kaufte es zu diesem Zweck ein Gebäude an der Rue Belliard (heute: Ausschuss der Regionen und Wirtschafts- und Sozialausschuss). Sechs Jahre später wurde nebenan eine alte Brauerei hinter dem Bahnhof am Place du Luxembourg abgerissen, ein privates Konsortium begann, ein Konferenzzentrum zu errichten. Das Parlament schloß 1992 einen Vertrag über Miete und späteren Kauf der Liegenschaft ab, ein Jahr später fand dort die erste Plenarsitzung in Brüssel statt.

Ebenfalls 1992 erfolgte die politische Einigung, welche fünf Jahre später als Protokoll in den Vertrag von Amsterdam einging und den heutigen Reisezirkus zwischen Brüssel und Straßburg zementierte: „Das Europäische Parlament hat seinen Sitz in Straßburg“, steht da geschrieben. „Dort finden die 12 monatlichen Plenartagungen einschließlich der Haushaltstagung statt. Zusätzliche Plenartagungen finden in Brüssel statt.“

Wird sich daran jemals etwas ändern? Darüber kann man nur spekulieren. Es wird interessant sein, wie sich die Debatte über den kraft schwerer Bau- und Sicherheitsmängel rechtlich gebotenen Neubau des Brüsseler Parlamentsgebäudes auf die Sitzfrage auswirken wird. Klar ist jedenfalls, dass Frankreich sich die Aufgabe von Straßburg äußerst teuer abkaufen lassen wird. Das zeigt die Anekdote der „Kalenderabstimmung“: Im März 2011 stimmte das Parlament dafür, zwei Sitzungen in Straßburg im Oktober 2012 und 2013 zu jeweils einer zu verschmelzen (im Oktober tagt das Parlament zweimal). Frankreich und Luxemburg zogen allein deshalb vor den EuGH – und erhielten recht.

Zwei Parlamentssitze

Jedes Monat müssen 5000 Menschen sowie Aktentruhen im Ausmaß von acht Lkw-Ladungen von Brüssel nach Straßburg transportiert werden. Die im EU-Vertrag festgeschriebenen zwei Standorte für das EU-Parlament lösen geschätzte Mehrkosten von 114 Millionen Euro pro Jahr aus.

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