Deutschland

Der stabile Koloss im Herzen Europas

Angela Merkel ist die große Abwesende im EU-Wahlkampf. Wird sie Europa als Krisenmanagerin abhandenkommen?
Angela Merkel ist die große Abwesende im EU-Wahlkampf. Wird sie Europa als Krisenmanagerin abhandenkommen?(c) REUTERS (Vincent Kessler)
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Deutschland funktionierte lang als Taktgeber Europas im Krisenmodus. Lang fürchteten viele EU-Staaten eine Dominanz der größten Volkswirtschaft. Neuerdings wächst indessen die Sorge vor einer Führungsschwäche der Regierung in Berlin.

Großbritannien will Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) werden, doch das Beitrittsgesuch wird abgelehnt. An der Spitze der EWG-Kommission muss Walter Hallstein abtreten – auf Druck Frankreichs. Wir schreiben das Jahr 1967. Seither bekleidete kein Deutscher mehr den Chefposten der Brüsseler Behörde. Nun, 2019, drängt mit EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber wieder ein Deutscher an die Spitze der Kommission.

Seit Hallstein hat sich dieses Deutschland freilich sehr gewandelt. Es ist wiedervereinigt, und es strotzt vor wirtschaftlicher Kraft. Die bevölkerungsreichste Nation Europas ist dabei auch ein recht stabiler Koloss. Für EU-Gegner ist die Bundesrepublik ein schweres Pflaster. Die europaskeptische AfD wird bei der EU-Wahl zwar zulegen, aber nur in Maßen. Umfragen taxieren die von einer Spendenaffäre geschwächte Partei bei 10 bis 13 Prozent. Die radikalen AfD-Forderungen nach Abschaffung des EU-Parlaments, einem Austritt aus dem Euro und einem Dexit als Ultima Ratio treffen keinen Nerv in der deutschen Gesellschaft.

Anders als ihre Verbündeten in Österreich sind die Rechtspopulisten in Deutschland nicht salonfähig. Man grenzt sich scharf ab im Wahlkampf: „Dumpfbacken“ nannte Manfred Weber die Nationalisten. Seine CSU verzichtet, anders als bei der Wahl 2014, auf Spitzen gegen Brüssel. Alles andere würde ihren Spitzenkandidaten Weber beschädigen. Auch die Linkspartei hat ihre EU-Kritik deutlich zurückgefahren. In Deutschland gibt es einen sehr starken proeuropäischen Konsens“, sagt Julian Rappold, Experte der renommierten Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, zur „Presse“.

Der breite Konsens sorgt aber auch dafür, dass Deutschland zunächst in Richtung EU-Wahl schlafwandelte. Noch ein Monat vor dem Urnengang kannte einer Umfrage zufolge jeder zweite Deutsche keinen einzigen Spitzenkandidaten – und das obwohl Landsmann Weber Europas Christdemokraten anführt und mit SPD-Frontfrau Katarina Barley erstmals eine amtierende Bundesministerin ins EU-Parlament wechseln will. Ein parteiübergreifendes Bündnis von Friedrich Merz (CDU) bis zu Ex-SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel sah sich deshalb zu einem Wahlaufruf an die Deutschen genötigt.

Die große Abwesende im Wahlkampf

Europas größter Volkswirtschaft steht in der nächsten Legislaturperiode des EU-Parlaments ein Umbruch bevor. Spätestens im Herbst 2021 will Angela Merkel als Kanzlerin aufhören. Vielleicht auch früher. Denn die EU-Wahl mag eine Schicksalswahl für den Kontinent sein, sie könnte es aber auch für die Große Koalition in Deutschland werden. Schon jetzt blühen Spekulationen, wie sich die drohenden Wahlverluste der SPD auf die Stabilität der Großen Koalition (GroKo) auswirken würde. Ein Ende der GroKo wäre auch das Ende der Ära Merkel.

Im Wahlkampf ist Merkel, die ja nicht mehr CDU-Chefin ist, die große Abwesende. Es ist bemerkenswert, dass Österreichs Kanzler Sebastian Kurz öfter an der Seite von EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber auftaucht als die deutsche Regierungschefin. Dabei ist Weber gemeinsamer Spitzenkandidat von CSU und CDU. Das gab es noch nie. Einen großen Widerspruch muss dieser CDU/CSU-Wahlkampf aber aushalten: Die deutsche Regierungsspitze um Merkel hält am weit vorangeschrittenen Bau der Nord-Stream-II-Pipeline fest. Weber sagt dagegen, er wolle das Projekt noch verhindern. Die Pipelines durch die Ostsee seien nicht im gesamteuropäischen Interesse. Weber ist damit auf einer Linie mit der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten. Das soll wohl auch jene beruhigen, die im Falle eines niederbayerischen Kommissionschefs eine neue deutsche Dominanz fürchten.

Es gibt aber noch eine zweite, gegenteilige Sorge, nämlich jene vor einer Führungsschwäche Deutschlands. Deutschland habe stark im Krisenmodus reagiert. Aber es zeige Schwächen, wenn es darum gehe, sich in Reformdebatten einzubringen und eine Vorstellung für die Zukunft Europas auszubuchstabieren, sagt Experte Rappold. „Es gibt in vielen Ländern das Gefühl, dass die ausgestreckte Hand von Emmanuel Macron nicht ergriffen wurde.“ Merkel zauderte und zögerte. Ihre Nachfolgerin als CDU-Chefin, Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK), lehnte Macrons Forderungen großteils ab. Ihre Skepsis gegenüber einer Vergemeinschaftung von Schulden und einer Europäisierung der Sozialsysteme ist freilich CDU-Konsens. Dass sie außerdem den Abzug des EU-Parlaments aus dem französischen Straßburg vorgeschlagen hat, kam in Paris aber schlecht an.

Die deutsch-französische Achse muss ungeachtet aller Sonntagsreden und des neuen Freundschaftsvertrags repariert werden. „Wenn man die Integration Europas anschieben möchte, ist eine deutsch-französische Verständigung unabdingbar“, sagt Rappold. Berlin ist für den Ausbau der Außen- und Sicherheitspolitik und eine Reform der Migrationspolitik.
Deutschland ist auch an der Besetzung des einen oder anderen Spitzenpostens interessiert. Eine weitere Amtszeit Hallsteins war 1967 am Widerstand Frankreichs gescheitert. Auch Manfred Weber muss mit Widerstand in Paris rechnen. Aber nicht nur dort. Weber braucht eine Mehrheit im EU-Parlament und den Konsens der Staats- und Regierungschefs. Das könnte schwierig werden. Vielleicht fällt stattdessen ein Spitzenposten für einen anderen Deutschen ab. Das Gerücht, Merkel könnte Präsidentin des Europäischen Rats werden, kursiert noch immer. Auch wenn das eher unwahrscheinlich ist und die Kanzlerin bisher jegliche Ambitionen bestreitet. Mit dem Volkswirt Jens Weidmann bietet sich auch eine Option für den prestigeträchtigen Posten des EZB-Chefs. Auch dieses Amt muss bald neu besetzt werden.

Deutschland

Seit 1967, seit dem Abgang Walter Hallsteins, hatte Deutschland nicht mehr die Spitzenposition in Europa inne. Mit dem niederbayerischen CSU-Politiker und EVP-Fraktionschef Manfred Weber, dem Spitzenkandidaten der Christdemokraten, könnte sich das ändern. Auch die SPD schickt mit
Justizministerin Katarina Barley erstmals eine Ressortche–fin ins Rennen nach Brüssel. Zuletzt war Martin Schulz SPD-Spitzenkandidat.

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