Großbritannien

Die Wahl, die keine hätte sein sollen

Noch ist Großbritannien EU-Mitglied. Der Brexit wurde mangels Einigung auf die Zeit nach der Europawahl aufgeschoben.
Noch ist Großbritannien EU-Mitglied. Der Brexit wurde mangels Einigung auf die Zeit nach der Europawahl aufgeschoben.(c) REUTERS (Hannah Mckay)
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Großbritanniens Europagegner sehen die Teilnahme an der EU-Wahl als Schmach, Befürworter als Chance. Selbst Premierministerin Theresa May muss eingestehen, dass die Abhaltung inakzeptabel sei. Den Preis dafür wird möglicherweise auch die EU zahlen.

Wenn einst die Geschichte des Brexit geschrieben wird, könnten zwei Wahlen zum Europaparlament am Anfang und Ende des Prozesses stehen: Die Tatsache, dass die radikalen EU-Gegner der United Kingdom Independence Party (Ukip) unter Nigel Farage bei der Europawahl 2014 erstmals stärkste Partei wurden, hatte maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung des konservativen Premierministers David Cameron, 2016 eine EU-Volksabstimmung abzuhalten. Er hoffte damit, den Streit – vor allem in seiner Partei – zugunsten eines klaren Bekenntnisses zur EU beizulegen. Doch recht sollte Farage behalten, der 2014 jubiliert hatte: „Der Fuchs ist nun im Hühnerstall.“

Eben dieser Farage führt nun die neue Brexit Party in die Europawahl am 23. Mai, und dass die Wahlen überhaupt stattfinden, ist sein stärkster Mobilisierungsfaktor. Denn nach Ansicht von Farages Truppe hätte Großbritannien die EU zum ursprünglichen Termin am 29. März verlassen sollen – ohne Abkommen und ungeachtet der Kosten. Die Forderung nach sofortiger Umsetzung des Volkswillens ist der einzige Programmpunkt der Partei. Dies zeigt auch ihr Emblem: Ein Kreis mit einem Pfeil nach außen.

Mit seinem Protest gegen den angeblichen „Betrug des politischen Establishments“ an den Wählern findet Farage rasanten Zuspruch. Nach jüngsten Umfragen liegt die Brexit Party mit 27 Prozent sogar vor der Labour Party mit 21 Prozent und den Konservativen mit 13 Prozent. Heute geschieht genau das, was Cameron verhindern wollte: Farage scheint drauf und dran, die Konservativen zu spalten. 52 Prozent der Tory-Wähler in der Unterhauswahl 2017 wollen nun die Brexit Party wählen, 96 Prozent der Konservativen glauben, dass ihre Partei durch das Patt um den EU-Austritt beschädigt worden ist.

Die Botschaft Farages, dass es eine „Schmach“ sei, knapp zwei Monate nach dem vermeintlichen Brexit-Termin nun erneut 73 britische Abgeordnete für das EU-Parlament zu wählen, trifft besonders bei der älteren Generation auf Zuspruch: 48 Prozent der über-65-Jährigen wollen der Brexit Party ihre Stimme geben. Da die Beteiligung an EU-Wahlen traditionell besonders niedrig liegt (2014: 35,6 Prozent), kommt der Mobilisierung besonderes Gewicht zu. Dass Farage seit 20 Jahren als Abgeordneter für seinen „langen Marsch durch die Institutionen“ allerdings selbst die „Silberlinge“ aus Brüssel in Form seines Gehalts nimmt, lässt er lieber unerwähnt.

Während Farage sich erfolgreich als Stimme des harten Brexit positioniert hat, ist das Lager der EU-Anhänger gleich mehrfach gespalten: Labour, Liberaldemokraten, Grüne und auch die neue Gruppe Change UK bemühen sich alle um dieselbe Wählerschaft. Labour, die größte Oppositionspartei, ist intern gespalten – und das gleich mehrfach. Die Führung will Labour als „einzige Partei, die sowohl für EU-Gegner und Befürworter spricht“, positionieren. Viele Abgeordnete fühlen sich aber an das Stimmverhalten ihrer Wahlkreise gebunden – oft gegen eigene Überzeugung. Ein weiterer Graben hat sich zuletzt bei der Position der Partei zu einer neuen Volksabstimmung aufgetan.

Dass die Labour-Führung unter dem deklarierten EU-Skeptiker Jeremy Corbyn zunächst überhaupt ohne Brexit-Position in die Wahl gehen wollte, sorgte unter Parteimitgliedern für Empörung. „Wir können uns nicht länger drücken“, sagte Vize-Parteichef Tom Watson. Auch der getroffene Beschluss, ein Referendum nicht zu verlangen, aber auch nicht auszuschließen, dürfte der Partei in Bezug auf Glaubwürdigkeit schaden.

Von dessen Fehlen versucht insbesondere die neue Gruppe Change UK, ein parteienübergreifender Zusammenschluss von EU-Befürwortern, zu profitieren. Die Partei hat starke Spitzen wie Chuka Umunna (Ex-Labour) und Anna Soubry (Ex-Tory). Wie die Brexit Party hat sie nur einen Programmpunkt, und zwar das genaue Gegenteil: den EU-Austritt verhindern. In Umfragen liegt sie bei neun Prozent, ein Punkt hinter den Liberaldemokraten.

„Viele werden die Ergebnisse als Ersatz-Volksabstimmung interpretieren“

Dazu, dass Großbritannien an den Europawahlen teilnimmt, meint selbst Premierministerin Theresa May: „Drei Jahre nach dem Brexit-Referendum ist das inakzeptabel.“ Dennoch werden die Wahlen von erheblicher Bedeutung sein: „Viele werden die Ergebnisse als Ersatz-Volksabstimmung interpretieren“, meint der Politologe Anand Menon. Obwohl sich die Sitzverteilung im Unterhaus dadurch nicht ändern wird, könnte es zu entscheidenden Änderungen kommen: „Bei einem starken Abschneiden der Brexit Party könnten mehr Konservative auf einen No-Deal-Kurs umschwenken“, meint Menon.

Umgekehrt sind auch gravierende Auswirkungen auf Labour zu erwarten: Muss die Partei ihre Position zu einem neuen Referendum überdenken, wenn Konkurrenten mit einer derartigen Forderung reüssieren? Wie reagierte die Partei auf Verluste an Farage? Paula Surridge von der University of Bristol: „So polarisiert die politische Landschaft ist, so eng sind die Übergänge zwischen den Parteien.“ Besonders für enttäuschte Wähler sei es „leicht geworden, zu wechseln“.

Bedeutsamer wird die Wahl möglicherweise für die EU. Obwohl die 73 britischen Abgeordneten nur auf Zeit gewählt und ihre Sitze nach ihrem Ausscheiden neu verteilt werden, könnten sie noch erheblichen Einfluss bekommen. Ab der Bestellung der nächsten Kommission hat das EU-Parlament erhebliche Mitspracherechte. Britische Stimmen könnten das Zünglein an der Waage werden, insbesondere angesichts erwarteter Zugewinne rechter Populisten. Simon Hix von der London School of Economics warnt: „Der bisher stabile Konsens zum Brexit könnte bei einer starken Repräsentanz von Euroskeptikern im Parlament erheblich unter Druck geraten.“

Großbritannien

Die Entscheidung, dass Großbritannien an der Euorpawahl teilnimmt, wurde erst am 7. Mai getroŠffen. Bis dahin hatte die britische Regierung gehoŠfft, das EU-Austrittsabkommen noch vor dem 23. Mai abschließen zu können. Die Teilnahme Großbritanniens führt dazu, dass die Neuaufteilung der Sitze auf die Zeit nach dem Brexit
verschoben wird. Österreich erhält vorerst 18 Sitze, nach dem Austritt Großbritanniens einen zusätzlichen Platz im EU-Abgeordnetenhaus.

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