Am Dienstag eröffneten die 72. Filmfestspiele mit Jim Jarmuschs Zombie-Klamotte „The Dead Don't Die“. Das Festival versammelt heuer Luxusmarken der Cinephilie.
Der Zirkus ist wieder in der Stadt. Paradiesvögel paradieren über die Promenaden, auf den Dachterrassen drängen sich Fotografen am Geländer – und die Sonne scheint auf Stars und solche, die es werden wollen. Die Filmfestspiele von Cannes sind in vollem Gange. Es ist also Zeit, sich zu positionieren. Filmemacher tun dies in den Startlöchern der Wettbewerbe, Sicherheitskräfte an strategischen Punkten, Journalisten in endlosen Schlangen, Käufer vor den Einlässen gehypter Markt-Screenings, Promis im Blitzlichtgewitter – und die Veranstaltung selbst als Platzhirsch im europäischen Filmeventkalender.
Denn der Festivalsektor ist hart umkämpft. Selbst als Alphatier muss man seinen Status verteidigen, die Konkurrenz schläft nicht. Venedig etwa hat sich neu orientiert: Statt zweite Arthouse-Geige spielt man dort nunmehr auf Hollywood-Klaviaturen und dient als Oscar-Rampe. Also rümpft Cannes demonstrativ die Nase. Was kümmert uns der schnöde Statuettenglanz, meinte Intendant Thierry Frémaux sinngemäß in einem Interview mit dem „Hollywood Reporter“ – wir hüten den guten Geschmack!
Um diesen aufrechtzuerhalten, hamstert Cannes gekonnt die Crème de la Crème des internationalen Kunstkinos. 2019 sieht nach einem erstklassigen Jahrgang aus, heißt es vielerorts. Gemeint ist die geballte Ladung von Luxusmarken der Cinephilie: große (Männer-)Namen wie Pedro Almodóvar, Ken Loach und die Dardenne-Brüder, allesamt Stammgäste, viele davon Goldpalmengewinner. Kinopriester Terrence Malick zeigt „A Hidden Life“, seinen deutsch-österreichisch besetzten Film über Franz Jägerstätter. Und Quentin Tarantino bringt „Once Upon a Time in Hollywood“. Im Gepäck: Glamourgaranten Brad Pitt und Leonardo DiCaprio.
Doch die Protzigkeit des Wettbewerbs kann nicht über Kritik hinwegtäuschen. Auch eine Grande Dame wie Cannes muss mit der Zeit gehen, zumal sie sich trotz besagten Beinamens schwer damit tut, Frauen hinter der Kamera eine Plattform zu bieten. Um den Hauptpreis rittern 21 Filme, nur vier davon stammen von Regisseurinnen. Darunter ist die Wienerin Jessica Hausner: Mit dem Sci-Fi-Drama „Little Joe“ stellt sie den einzigen heimischen Wettbewerbsbeitrag.
Frémaux signalisiert guten Willen: Nachdem er vergangenes Jahr eine Paritätserklärung unterzeichnet hatte, wurde inzwischen das Auswahlkomitee umbesetzt. Die aktuelle Jury hat vier weibliche und vier männliche Mitglieder (exklusive des Präsidenten Alejandro González Iñárritu). Dass es weniger um Zahlen geht als um strukturellen wie filmkulturellen Wandel, ist jedoch klar. Und da bleibt Cannes seinen Traditionen treu, zur Freud mancher, zum Leid anderer.
Aufruhr um Ehrenpreis für Alain Delon
Kontroversen nährt etwa die Ehrenpalmen-Würdigung der französischen Schauspiellegende Alain Delon, dessen strittige Äußerungen zu Homosexualität und Sympathien für die Rechtspartei Front National vielen sauer aufstoßen. Eine Onlinepetition gegen die Verleihung zählt schon über 20.000 Unterschriften. Frémaux steht zu seiner Entscheidung: Es gehe hier schließlich nicht um den „Friedensnobelpreis“, sondern um filmhistorische Leistungen.
Diese dürften auch dazu beigetragen haben, dass Althipster Jim Jarmusch den Eröffnungsfilm stellen durfte. Denn sein jüngstes Werk „The Dead Don't Die“ blieb Dienstagabend hinter den Erwartungen zurück – trotz des gewohnten Charakterkopf-Aufgebots. Bill Murray, Adam Driver, Tilda Swinton, Danny Glover, Chloë Sevigny, Selena Gomez, Steve Buscemi, Iggy Pop, RZA und Co. veredeln die augenzwinkernde Horror-Klamotte, die in einem verschlafenen US-Städtchen spielt. Als die Dämmerung ungewohnt lang auf sich warten lässt, schwant den örtlichen Gendarmen Übles. Siehe da: Bei Nachteinbruch kraxeln Leichen aus ihren Gräbern und heischen Menschenfleisch.
Wo Jarmuschs letzter Film, die Volksdichterparabel „Paterson“, erstaunlich frisch daherkam, verströmt „The Dead Don't Die“ den Mief des Altbekannten. Die Gattung Zombiekomödie hat sich totgelaufen, und der Indie-Papst fügt ihr abseits schaler Meta-Witzchen nichts Neues hinzu. Zudem disharmoniert Jarmuschs tiefenentspannte Ästhetik mit jeglichen Spannungsansprüchen – und der politische Subtext (Untergangsstimmung in Trumpland) ist gleichermaßen plakativ wie zahnlos.
Vergnüglicher: „Le daim“, Quentin Dupieux' skurriler Korkenzieher der Nebenschiene Quinzaine des Réalisateurs (wo auch „Lillian“ läuft, der erste Spielfilm des Dokumentaristen Andreas Horvath). Ein Mann (Jean Dujardin) verliebt sich in seine fransige Jacke, beginnt ihre Stimme zu hören, Videos mit ihr zu drehen. Das sollte Jungregisseuren Hoffnung geben: Man braucht nur einen Plan und eine Portion Wahnsinn. Und eine Jacke – 100 Prozent Hirschleder.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2019)