Julia Herr, Kevin Kühnert und die Orbánisierung von Europas Linken

Der deutsche Juso-Chef Kevin Kühnert will BMW zu einer modernen Kolchose umbauen.
Der deutsche Juso-Chef Kevin Kühnert will BMW zu einer modernen Kolchose umbauen. (c) REUTERS (RALPH ORLOWSKI)
  • Drucken

Häuser enteignen? Konzerne kollektivieren? Die Linken finden zu ihren Kernthemen zurück. Dort warten aber schon Rechtspopulisten und Autokraten.

Wer mit 20 kein Sozialist ist, der hat kein Herz. Und wer mit 30 noch Sozialist ist, der hat kein Hirn.“ Winston Churchill hat das gesagt. Oder George Bernard Shaw. Oder Benjamin Disraeli. Das Internet streitet darüber. Es ist auch egal. Der Spruch ist heute eine Binsenweisheit. Botschaft: „Sozialismus ist im Grunde toll. Eine faire Welt ist doch cool, oder? Blöd nur, dass das in der Praxis nicht geklappt hat. Bisher.“ Generation auf Generation scheint das Klischee zu bestätigen. Die rebellische Jugend hat immer dieselben Gegner: Konzerne, Wirtschaft, Manager – der böse Kapitalismus.

Jetzt ist es wieder so weit. Der deutsche Juso-Chef Kevin Kühnert will BMW zu einer modernen Kolchose umbauen. Und Österreichs Jungsozialisten-Chefin, Julia Herr, die für die SPÖ bei der EU-Wahl antritt, würde auch gern irgendetwas verstaatlichen. „Aber nicht sofort“, beruhigt sie. Ihr Ziel sei klar, sagte sie dem „Kurier“. Herr will den „kapitalistischen Ausbeutungsprozess“ stoppen: „Es geht grundsätzlich darum, dass wir derzeit in einem Wirtschaftssystem leben, das nicht demokratisch funktioniert.“

Kühnert und Herr gehören zu den berühmten Millennials, die gerade das Linkssein für sich entdecken. Wie ihre Eltern vor ihnen. Der Wein ist alt, aber die Schläuche sind neu: Herr und Kühnert nutzen soziale Medien von US-Konzernen auf Smartphones von US-Konzernen, um gegen US-Konzerne, europäische Konzerne und generell Konzerne zu wettern. Hier kann der gescholtene Kapitalismus schon mal einen Punkt machen.

Im Sozialismus werden Kritiker eingesperrt oder kaltgestellt. Wenn die absolute Wahrheit von der Partei ausgeht, braucht es keinen Dialog. Die Marktwirtschaft braucht aber den Austausch von Ideen wie einen Schluck Wasser. Irgendwo muss immer irgendjemand unzufrieden sein, damit jemand anderer eine Lösung erarbeiten kann. Der Kapitalismus fördert die Kritik an sich selbst so stark, er gibt seinen Gegnern sogar die Werkzeuge zum Protest, und wer den Kapitalismus besonders unterhaltsam hassen kann, steigt zum Popstar auf und verdient auch prächtig.

Auch die Aussage von Julia Herr, wonach unser Wirtschaftssystem nicht demokratisch funktionieren würde, kann man so nicht stehen lassen. Hier stellt die Politikerin die Wahrheit auf den Kopf. Marktwirtschaft, Liberalismus und Demokratie sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn ein Wirtschaftssystem demokratiefeindlich ist, dann der Sozialismus. Herr hat einst vom „Vorbild Venezuela“ geschwärmt. Was ist davon außer beklagenswertem Leid übrig?


Es stimmt schon: Die Demokratie selbst erlebt keine Blüte. Überall tauchen starke Männer auf, die dem Staat immer mehr Macht verschaffen wollen, während sie die Freiheit ihrer Bürger beschneiden. Aber Viktor Orbán, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan und Konsorten sind allesamt weder Liberale noch Kapitalisten. Sie sind Rechtspopulisten und Autokraten, die auf Enteignung und Verstaatlichung setzen. Sie drangsalieren die Freiheit der Wirtschaft und die Demokratie mit genau der Medizin, die in Westeuropa jetzt von den Linken vorgeschlagen wird.

Noch besser lässt sich dieser Trend in China beobachten. Warum hat Julia Herr das Reich der Mitte nie als Vorbild genannt? Immerhin gab es dort in den vergangenen Jahrzehnten einen unglaublichen Boom unter kommunistischer Flagge. Gelbe Sterne, roter Grund, das kann bei der sozialistischen Jugend nicht unbemerkt geblieben sein, oder?

Erste Antwort: Chinas Boom ist ein kapitalistischer. Die Zentralregierung hat alle Varianten des Sozialismus durchgespielt und sich am Ende nach einem Tipp aus Amerika doch für die Marktwirtschaft entschieden. Zweite Antwort: China will jetzt unbedingt den Beweis antreten, dass Kapitalismus und Demokratie einander nicht benötigen. Man will rasches und freies Wirtschaftswachstum einerseits und volle Kontrolle über Leben und Denken der Menschen andererseits. Dafür errichtet Peking einen furchterregenden Hightechüberwachungsstaat. Als Vorbild taugt das keinesfalls. Und ob es langfristig funktioniert? Falls nicht, können wir ja dem Kapitalismus die Schuld geben.

E-Mails an:nikolaus.jilch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.05.2019)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

„99 Cent“ von Andreas Gursky – die Fotografie wurde 2006 bei Sotheby's für 2,26 Millionen Dollar verkauft.
International

Wie viel Schuld trifft den Kapitalismus

Deutsche Politiker wollen Konzerne „vergesellschaften“, Schüler sind im Klimastreik, „diese Wirtschaft tötet“, sagt der Papst.
International

Was ist auf dem Wohnungsmarkt in Deutschland schiefgelaufen?

Juso-Chef Kevin Kühnert ist einer der Gewinner der Enteignungsdebatte. Die Herzen der Linken fliegen ihm nur so zu. Wie es zu dem Berliner Wohnungsmarktdebakel gekommen ist und warum es mit Enteignung nicht zu lösen ist, wird dabei oft vergessen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.