Der ESC 2019 ist geschlagen. Der Favorit der Buchmacher, Duncan Laurence, holt den Sieg für die Niederlande. Ein Supergau.
„Die wissen nicht, wie blöd sie sich stellen sollen.“ Dieses launige Verdikt aus Volkes Mund, das meist fällt, wenn sich Exzentriker künstlerisch äußern, war heuer überraschend selten anzuwenden. Am krassesten war noch die ostentative Ereignislosigkeit, die Slowenien auf die Bühne wuchtete. Als wären sie voneinander hypnotisiert standen einander Sängerin Zala Kralj und Gitarrenstreichler Gasper Santl gegenüber und sanftelten, die 200 Millionen Zuseher souverän ausblendend, mit nicht zuwenig Weltekel so vor sich hin. Grandios, bei einer Veranstaltung, bei der Grellheiten hoch im Kurs stehen, etwas so entschieden Bleiches zu präsentieren. So beginnen Revolutionen. Das Duo landete auf dem soliden 13. Platz, während sich eine große Popnation wie Großbritannien blamierte und den letzten Rang belegte. Michael Rice, mehrfach in Castingshows erprobt, war als Sam-Smith-Imitator einfach unwürdig. Da half kein charmantes Hüftgold.
Erfrischend anders, neben Slowenien, waren sonst nur noch Island und Norwegen. „Spirit In The Sky“, ein Lied, das Balladenschmelz, Heavy-Metal-Pathos und Joiken verband, jenen steinalten, gutturalen Gesang, den das Volk der Samen von jeher pflegt. Die kuriose Art, wie das Trio KEiiNO, diese unebene Nummer auf die Bühne brachte, wurde belohnt: Platz 5. Hatari aus Island, die zunächst als Mitfavoriten gegolten haben, wurden mit ihrem Mix aus martialischem Brüllgesang und Seicherldisco letztlich nur Zehnter. Nach der letzten Wertung wachelten sie mit „Palestine“-Schals in die Kameras, was ein spontanes Pfeifkonzert im Saal nach sich zog. Nein, ihr Recht auf den totalen Eskapismus, lassen sich die Eurovision-Hardcore-Fans nicht nehmen.
Duncan Laurence mit "Arcade" Der Dauerfavorit wurde den Erwartungen gerecht. Sein Song-Contest-Beitrag über jemanden, der jung gestorben ist und deshalb die große Liebe nicht mehr erleben durfte, ist eine gefühlvolle Ballade mit einem kleinen hymnischen Touch. Alleine bzw. mit Lampe am Klavier vorgetragen. Coldplay könnten es nicht besser machen. 492 Punkte (c) REUTERS (AMIR COHEN)
Mahmood mit "Soldi" Umstritten war die Wahl des Rappers Mahmood, Sohn eines ägyptischen Vaters, als Vertreter Italiens. Sein rasant vorgetragener Song über Geld(-Mangel), wahrscheinlich der zeitgenössischste Beitrag. War live leider nicht so stark wie die Studioversion. Bei der Jury kam die Nummer gut an. 465 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Sergej Lazarev mit "Scream" Russland nimmt den Song Contest sehr ernst. Mit Sergej Lazarev schickte man einen Megastar aus dem eigenen Land, auch sonst scheute man keinen (visuellen) Aufwand (Spiegel, Regen, Tänzer). Leider setzte der einwandfrei vorgetragene Song zu sehr auf Pathos, zu wenig auf Melodie. Egal, was man behauptet: alles andere als Top drei ist für Russland eine Kränkung. 369 Punkte (c) REUTERS (AMIR COHEN)
Luca Hänni mit "She Got Me" Ein Pop-Song, wie er in einer Disco auf Ibiza laufen könnte. Der ehemalige "Deutschland sucht den Superstar"-Sieger wurde vom Live-Publikum in der Halle in Tel Aviv bejubelt. Einziges Manko: Man verstand kein Wort. Aber das ist man von Schweizern eigentlich gewohnt. Starker vierter Platz! 360 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
KeiiNO mit "Spirit In The Sky" Die eingängige Popnummer aus der Tradition des Eurotrash hätte auch aus dem Nachbarland Schweden sein könnten - aber hätten die sich auch getraut, einen Teil in Gurgellauten vorzutragen? Die schrägste Partytruppe des Wettbewerbs. 338 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
John Lundvik mit "Too Late For Love" Ein perfekter Song-Contest-Song: Gute Laune, Gefühle, eingängige Melodie und ein Beat. Interessant war die Performance: sah so aus, als würde er gehen, aber er stand bloß auf der Stelle. Ein bisschen Retro war der Backgroundchor, der gegen Ende in den Vordergrund rückte. Lange sah es so aus, als könnte er gewinnen. Am Ende reichte es "nur" für Platz 6. 332 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Chingiz mit "Truth" Eine ungewöhnliche Bühnenshow mit Robotern und eine sehr mitsingtaugliche Nummer mit einschlagendem Beat. Die Melodie sei zu hoch zum Mitsingen? "Shut up about it!" 297 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Tamara Todevska mit "Proud" Tolle Stimme, schöne Botschaft (Selbstermächtigung für Kinder), insgesamt etwas musicalhaft - nicht unbedingt im positiven Sinne. Beim Publikum kam die Nummer sehr gut an, bei der Jury aber weniger. 295 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Kate Miller-Heidke mit "Zero Gravity" Dass Australien eine Bereicherung für den Song Contest ist, zeigt sich immer wieder. Kein anderes Land hat seine Teilnehmerinnen auf Stangen über einer Weltkugel schweben lassen. Die Performance war schon einmal top, ebenso die Stimme. Und mit dem Lied wird das auch bald hinhauen. Verspro-hi-hi-hi-hi-hen! 285 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Hatari mit "Hatrið mun sigra" Leder-Lack-Bondage-Bühnenoutfits, gepresster Schreigesang und eine antifaschistische und antikapitalistische Botschaft: Island war wirklich ... anders. Die Rammstein-Truppe des Song Contests quasi. Mitsingpotential hatte die Nummer freilich nicht. Ihr Safe Word? "Euphoria" ((c) BBC). Bei der Punktevergabe schwangen sie Palästinenserschals. Muss nicht sein, der Song Contest will aus guten Gründen unpolitisch sein. 234 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Lake Malawi mit "Friend Of A Friend" Bands haben es traditionell schwer beim Song Contest, so auch diese. Der treibende Beat und die Pullover erinnerten an die Achtziger. Auch der Song hätte aus dem Soundtrack eines John-Hughes-Films wie "The Breakfast Club" stammen können. Für sich alleine stach er zu wenig hervor, fand aber trotzdem einige Fans. 157 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Leonora mit "Love Is Forever" Was wird von Leonora in Erinnerung bleiben? Die Hosenträger? Die versöhnliche Liebes-Botschaft? Gar das Lied? Nein, der gigantische Stuhl, auf den sie stieg. Eine österreichische Möbelhauskette hat bereits Interesse an einer Zweitverwertung der Requisite angemeldet. 120 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Zala Kralj & Gašper Šantl mit "Sebi" Der Auftritt war sehr minimalistisch: weiße Kleider, weiße Turnschuhe, ein Keyboard, eine Gitarre und tiefe Blicke in die Augen des anderen. Nett. Aber langweilig. Dass sie überhaupt so weit gekommen sind, liegt wahrscheinlich daran, dass die beiden so süß miteinander sind. 105 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Bilal Hassani mit "Roi" Der Einfluss von Conchita Wurst ist bei Bilal Hassani unverkennbar. Bilal Hassani, schwuler Sohn marokkanischer Eltern, sang mit langen blonden Haaren über Cyber Mobbing und auch seine Tänzer entsprachen nicht der Norm. Mutig! Seine Stimme allerdings war eine der schwächeren des Abends. 105 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Tamta mit "Replay" Tamta, die bereits als 14-Jährige Mutter wurde, hatte das gewagteste Outfit des Teilnehmerfeldes. Die Lackstiefel endeten im Schritt und da war ... nichts? Gesungen hat sie auch, und gar nicht einmal so schlecht. Leider war man abgelenkt. 101 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Michela mit "Chameleon" Der gut gelaunte Song war weniger grell als die Bühnenlichter, die erst 18-jährige Michela strahlte Freude aus, war allerdings stimmlich in der Strophe nicht ganz sicher. Sie war eine der wenigen weiblichen Acts, denen Chancen auf den Sieg eingeräumt wurden. Am Ende reichte es nur für Platz 16. 95 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Nevena Božović mit "Kruna" Die düstere Ballade, untermalt von E-Gitarren und Folklore-Fideln, war trotz Dramatik wenig fesselnd. Da halfen auch die Handschellen nicht. 92 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Jonida Maliqi mit "Ktheju tokës" Hochdramatisch in Outfit (Goldschmuck, schwarzer Samt), Performance (ausladende Gesten, Feuerfontänen) und Lied. Dieses wurde allerdings weniger gesungen als geschrien. Die Botschaft an die ausgewanderten Landsleute: "Kehrt zurück!" Das Gesamtpaket war allerdings selbst den Drama-Queens unter den Song-Contest-Fans zu viel. 90 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Victor Crone mit "Storm" Allein in der Lederjacke vor Bildern von Sturm und Blitzen. Victor Crone war sehr Neunziger irgendwie. Sehr bemüht und sehr unspannend. 86 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Serhat mit "Say Na Na Na" Der mehr gesprochene als gesungene Beitrag von Serhat, dem diesmal ältesten Teilnehmer des ESC, erinnerte ein bisschen an Louie Austen - nur weniger cool. Vielleicht war das aber nur der weiße Anzug. Hatte aber was, die Performance des Mannes mit den türkischen Wurzeln. 81 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Katerine Duska mit "Better Love" Der einzige Beitrag mit Degentragenden Tänzerinnen - vielleicht in der gesamten Song-Contest-Geschichte. Song und Performance erinnerten an floral-hymnischen Indie-Pop á la Florence and the Machine, an deren Stimme Katerine Duska aber bei Weitem nicht herankommt, weshalb im Refrain auch die Background-Sängerinnen kräftig aushalfen. 12 Punkte gab es - Überraschung - aus Zypern. 71 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Miki mit "La venda" Wäre der Song Contest kein Liederwettbewerb, sondern ein Fußballevent, wäre Mikis Song ein perfekter Soundtrack. Eingängiger Mitklatsch-Pop! Wo ist der Sangria? 60 Punkte (c) APA/AFP/JACK GUEZ (JACK GUEZ)
Kobi Marimi mit "Home" Von dem getragenen Lied des sympathisch wirkenden Lokalmatadors blieb nur der opernhafte Einschlag in Erinnerung. Und die Tränen nach dem letzten Ton. Tränen der Ergriffenheit, nicht der Trauer oder der Freude. 47 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
S!sters mit "Sister" Schwesternliebe. Man wurde den Eindruck nicht los, dass der große Nachbar den Song Contest mit Castingshows a la "Deutschland sucht den Superstar" verwechselt. Doch herrschen hier andere Gesetze. Zumindest war das Lied inbrünstig vorgebracht. Geholfen hat es trotzdem nicht. 32 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Zena mit "Like It" Die erst 16-jährige Zena ist Schauspielerin, Moderatorin und Sängerin. Stimmlich war sie allerdings nicht immer sicher. Als Party-Song eignet sich ihr "Like It" aber allemal. 31 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Michael Rice mit "Bigger Than Us" Niemand kann diese Art Pop besser als Großbritannien, Geburtsland von Take That. Sehr eingängig, mit Backgroundsängern dick aufgetragen - nur leider blieb von dem Song nichts hängen. Wer auch immer ihm die engen Hosen eingeredet hat: nein. 16 Punkte (c) REUTERS (RONEN ZVULUN)
Die 26 Finalisten in der Einzelkritik
Kleines Detail am Rande
Eine Bereicherung in dieser Hinsicht war die Australierin Kate Miller-Heidke. Ihre opernhaften Vokalmätzchen entbot sie auf einer sehr biegsamen Vogelstange vor Weltraumkulisse. Davon abgesehen, heuer war alles so artig und vorhersehbar, dass man sich kaum warmschimpfen konnte. Dass letztlich die Niederlande mit einer schmerzhaft durchschnittlichen Nummer als der seit Wochen gesetzte Favorit gewinnen konnten, ist eigentlich der größte anzunehmende Störfall für eine Veranstaltung, die bislang als unberechenbar gegolten hat. Womöglich war gewinnentscheidend, dass sich Duncan Laurence schon im Vorfeld zu seiner Bisexualität bekannt hat, jenes Puzzleteilchen, das ihm zum Sieg vor Italien verhalf.
Der Mailänder Mahmood, der in „Soldi“ mit Adriano-Celentano-Stimme seinen moralisch nicht einwandfreien ägyptischen Vater anklagte, wurde mit 27 Punkten Rückstand Zweiter. Nach der Jury-Wertung, als noch die nordmazedonische Powerballade „Proud“ in Führung lag, war eine Sensation zum Greifen nah. Die sympathische Sängerin Tamara Todevska ertrug den Rückfall auf Platz 8 tapfer. So richtig erbarmungslos war das Publikum mit dem zu Klischees neigenden deutschen Duo Sisters, das nicht einen einzelnen Punkt von ihm bekam: Platz 24. Auch der Afro-Schwede John Ludvik stürzte aus aussichtsreicher Position noch durch die Publikumswertung ab.
Das tat auch Madonna, die mit blondierten Gretlzöpfen und schillernder Augenklappe im Rahmenprogramm auftrat. Erstaunlich falsch singend, zelebrierte sie 30 Jahre „Like A Prayer“ und stellte zudem ihren neuesten Song „Future“ vor, einen brustschwachen Autotune-Calypso. Hier empfiehlt sich dringlich der Pensionseintritt. Anders als bei der schön gealterten, israelischen Sängerin Gali Atari, die einmal noch „Hallelujah“, ihren Siegertitel von 1979, sang. Im Gegensatz zu Madonna gewann sie an Charisma, auch stimmlich. Ein ESC-Fan drückte es auf Facebook so aus: „Meine Stimme geht an Madonna. Sie hat ja keine.“
Der Favorit hat sich durchgesetzt: Duncan Laurence hat mit seiner melancholischen Ballade "Arcade" den Eurovision Song Contest gewonnen. Das neue Voting-Prozedere machte die Sache spannend. Und Madonna war auch da.