Die Deutschmatura im Wandel

Soll im Deutschunterricht die Persönlichkeitsbildung handwerklichen Kompetenzen geopfert werden?

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Mein Maturathema in Deutsch im Jahr 1976 war ein Zitat von Günter Eich: „Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.“ An den Arbeitsauftrag kann ich mich nicht erinnern, aber daran, dass ich beim Schreiben in Fluss gekommen bin und mir klar wurde, dass mir dieses Zitat eine erstrebenswerte Ausrichtung und Haltung für mein Leben im „Getriebe der Welt“ aufzeigt. Es gab keine speziellen Textsortenkriterien und keine Mindest- oder Maximallängenvorgabe. Ich hatte Zeit, mir Aufbau, Gliederung und Fazit meiner Arbeit gründlich zu überlegen.

1999 gebe ich als Deutschlehrerin an einer Wiener AHS folgende „Problembehandlung“ zur Matura: „Es ist der Erfahrungsschwund, der immer mehr auftritt, durch die Entwicklung der Massenmedien, durch das Leben aus zweiter Hand . . . Es ist natürlich der verzweifelte Versuch (der Schriftstellerin) bei diesem Erfahrungsschwund die Menschen dahin zu bekommen, dass sie wieder merken, wo denn ihre Probleme sind, nicht die, die man ihnen aufschwatzt.“ (Aus: Ingeborg Bachmann, „Wir müssen wahre Sätze finden“, 1973.) Kannst du, ausgehend von diesem Zitat, Schriftsteller/innen nennen und beschreiben, wie du durch deren Werke deinen Problemen nähergekommen bist? Auf welche „Probleme“ bist du durch welche Werke gestoßen?

Zum Nachdenken anregen

Ich habe also als Vorbereitung mit meiner Klasse einiges an Literatur gelesen und habe mir vorgestellt, dass junge Menschen Gewinn haben würden von dieser Lektüre, dass sie sich selbst bzw. ihren Problemen näherkommen würden. Es war mir immer ein Anliegen, dass meine Schüler/innen zum Nachdenken angeregt werden und sich die Mühe nehmen, ihre Gedanken sprachlich stimmig auf den Punkt zu bringen. Viele sind „angesprungen“ und haben etwas gewonnen. Eine Schülerin hat mich nach der Matura einmal gefragt: „Könnten Sie uns nicht eine Leseliste mitgeben?“

Funktionieren ohne Kontra?

2019, ich bin inzwischen in Pension, maturiert mein Sohn und muss zum Thema „Die Macht der Sprache“ Folgendes bewältigen: Er muss erstens einen langen, hochkomplexen, mit philosophischer Terminologie und Fremdwörtern versehenen Ausschnitt aus dem Sachtext „Sprache und Politik“ des Sprachwissenschaftlers Heiko Girnth zusammenfassen, sich dabei an zwei Arbeitsaufträge halten und zwischen 270 und 330 Wörter schreiben.

Es ist zweitens eine „Meinungsrede“ mit dem Titel „Worte wirken“ zu verfassen. Darin einzubauen ist ein Artikel zum Manifest eines deutschen Lehrerverbands gegen die totale verbale Entgleisung. Die angeführte Problematik ist mit eigenen Erfahrungen zu vergleichen, und schließlich sind noch Vorschläge gegen die Verrohung der Sprache anzuführen; zwischen 540 und 660 Wörter sind gefordert.

Das ist gewiss ein interessantes, aktuelles Thema. Aber wie sollen die jungen Menschen in der knappen Zeit die komplexen Aufgabenstellungen und Längenvorgaben bewältigen? Wo bleibt Zeit zum Nachdenken, für Kreativität und Inspiration?

Natürlich sollte man verschiedene Textsorten und das Erfassen wesentlicher Informationen aus komplexen Sachtexten trainieren. Natürlich kann man üben, in kurzer Zeit so und so viele Wörter zu schreiben. Aber das sind vor allem handwerkliche Kompetenzen. Soll ihnen Persönlichkeitsbildung geopfert werden? Für diese braucht es individuelle Freiheiten, Zeit für Beschäftigung mit Literatur und ethischen Werten, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese zu hinterfragen. Sonst wird man dazu erzogen, ohne Widerrede zu funktionieren und „Öl zu sein im Getriebe der Welt“.

Mag. Evelyn Ram (*1957) war
AHS-Lehrerin für Deutsch in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2019)

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