Filmfest Cannes: Zu Fuß quer durch die USA

Patrycja Planik als Lillian spricht im ganzen Film kein Wort. Ihre Mimik vermittelt genug.
Patrycja Planik als Lillian spricht im ganzen Film kein Wort. Ihre Mimik vermittelt genug.(c) Ulrich Seidl Filmproduktion
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„Lillian“, Spielfilm des österreichischen Dokumentaristen Andreas Horvath, handelt von einer Russin, die von New York aus ihre Heimat ansteuert.

Einfach aufstehen und gehen. Egal, wohin, Hauptsache weg, so weit die Füße tragen. Eine Vorstellung, die so gut wie jeder kennt. Im Englischen gibt es sogar einen Ausdruck dafür: „get-up-and-go“. Doch wo dieser Begriff für Energie und Enthusiasmus steht, impliziert unbändige Wanderlust oft auch Überdruss. Ist dies der Grund, warum die Titelfigur von „Lillian“ sich spontan auf die Socken macht? Andreas Horvaths jüngster Film, der am Montag in einer Cannes-Nebenschiene Premiere hatte, lässt sie quer durch Amerika wandern, nach Westen hin in Richtung Beringstraße.

Ein Weg, den die Osteuropäerin Lillian Alling in den 1920ern tatsächlich zurücklegte. Bis zu dem Punkt, an dem sich ihre Spur verliert. Die Geschichte diente Horvath als Inspiration, er verlegt sie jedoch in die Gegenwart – es geht um den poetischen Gehalt. Ein klassischer Spielfilm ist „Lillian“ ohnehin nicht, die dokumentarischen Wurzeln des Salzburger (Reise-)Filmemachers scheinen deutlich durch.

Am Beginn steht die leise Andeutung eines Scheiterns als Antrieb: Eine junge Russin bewirbt sich in New York als Pornodarstellerin und wird abgelehnt. Sie könne doch in ihre Heimat zurück, rät der Produzent, Russland sei heute sowieso das wahre Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Also bricht Lillian auf. Zu Fuß. Ohne zu packen, ohne zurückzublicken. Ihr Trip führt sie durch Rost- und Korngürtel des USA, vorbei an den Rocky Mountains, schließlich zum Yukon. Die Bilder zeigen die USA von einer Seite, die gern ausgeblendet wird: unwirtlich, desolat, spärlich besiedelt. Aber auch von roher Schönheit.

Lillian kann kein Englisch und meidet Menschenkontakt. Sie übernachtet in leer stehenden Häusern, wäscht sich in öffentlichen Toiletten, lässt ab und zu etwas mitgehen. Einmal muss sie vor einem zudringlichen Hinterwäldler Reißaus nehmen. Als ein Sheriff sie aufklaubt und vor der Weiterreise warnt, stellt sie sich taub: Die Entschlossenheit, um jeden Preis ans Ziel zu gelangen, steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Es gehört der polnischen Künstlerin Patrycja Planik. Im ganzen Film spricht sie kein Wort, ihre herbe Mimik vermittelt genug. Sie scheint sich auf dem Kriegspfad zu befinden. Einmal pinkelt sie achtlos auf einen Felsvorsprung. Als sie aufsteht, erkennt man hinter ihr Mount Rushmore.
Horvath nennt seine berückende neue Arbeit ein „entschleunigtes Roadmovie“ und die „Chronik eines langsamen Verschwindens“, beides treffende Beschreibungen. Ein wenig erinnert sie an Agnès Vardas Vagabundenballade „Vogelfrei“. Und an „Dead Man“, Jim Jarmuschs Westernfahrt über den Styx. Von Beginn an ahnt man, dass Lillian gehen wird, bis sie untergeht – doch der überraschende Epilog gewährt ihr einen posthumen Triumph.

Helmut Berger in Serras „Liberté“

Horvaths vorhergehender Film war eine umstrittene Doku über Helmut Berger, sie zeigte ihn an der Grenze zum Selbstverlust. Nun hat es Berger wieder nach Cannes geschafft: Im jüngsten Streich des kunst- wie hintersinnigen Katalanen Albert Serra verkörpert er den Herzog von Walchen, einen Freidenker mit ausgefallenen Vorlieben.

Gepinkelt wird auch hier – und noch viel mehr. „Liberté“ heißt der skurrile Kostümfilm, eine Adaption des gleichnamigen Theaterstücks, das Serra vergangenes Jahr an der Volksbühne inszeniert hat. Im Grunde zeigt er eine Orgie in Zeitlupe: Diverse Perückenträger torkeln durch dunkles Unterholz und mühen sich damit ab, im Ausleben wildester Fantasien Erfüllung zu finden. Das Resultat ist nicht immer gustiös, doch ein Füllhorn absurden Humors – und der kommt in Cannes oft zu knapp.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2019)

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