Wer mehr Europa will, will Europa nicht mehr

(c) Peter Kufner
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Die EU ist in Gefahr, dass sie vom französischen Zentralismus und dem Hang zur Planwirtschaft angesteckt wird.

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Die fast schon lustvolle Erwartung eines Erfolgs der rechten und rechtspopulistischen Parteien bei der Wahl zum Europäischen Parlament soll den Eindruck erwecken, als ob es am kommenden Sonntag um Sein oder Nichtsein ginge, um das Überleben Europas schlechthin: Auf der einen Seite die Nationalisten und Feinde Europas, die es zerstören wollen, auf der anderen diejenigen, die sich noch mehr Europa und jedenfalls ein stärkeres wünschen. Diese Vorstellung eines tief gespaltenen Europas entspricht aber nicht dem Meinungsbild unter jenen rund 42 Prozent Europäern, die überhaupt zur Wahl gehen wollen. Es herrscht eher Ratlosigkeit als Polarisierung.

Das merken auch die Wahlkämpfer, die wenig Begeisterung beim Publikum spüren. Da hilft es auch nichts, wenn eine steirische Kandidatin ganz volksnah die unbestreitbare Wahrheit formuliert: „Jeder Voitsberger ist ein Europäer.“ Diese Wahl ist keine europäische Schicksalswahl. Zwar hat das Parlament zuletzt vor allem durch seine Mitwirkungsrechte bei der Besetzung des EU-Spitzenpersonals einen Machtzuwachs erfahren, aber seine Bedeutung bleibt begrenzt. Es ist ein Parlament ohne Staat und Staatsbürger. Dass es sich den luxuriösen Unfug zweier Tagungsorte leistet, macht es auch nicht wichtiger.

Die im Lissabon-Vertrag verheißene „immer engere Union“ erweckt die falsche Vorstellung, es gebe eine irreversible historische Gesetzmäßigkeit für einen europäischen Einheitsstaat. Die beiden latenten Krisen Europas, die Finanz- bzw. Schuldenkrise und die Migration haben stattdessen gezeigt, wie tief die kulturellen und politischen Unterschiede in Europa sind. Zu meinen, nationale Identitäten seien nur noch eine romantische Nostalgie, ist eine Illusion. Völker lassen sich nicht durch einen politischen Willensakt zu einer bloßen Bevölkerung machen. Der demokratische Nationalstaat bleibt weiter die zentrale Quelle demokratischer Legitimität und politischer Zugehörigkeit in Europa.

Die Entscheidung, vor der die EU steht, ist nicht die zwischen den Feinden und Freunden Europas, sondern eine zwischen einem Europa der Freiheit, der Vielfalt, der Leistung und des Wettbewerbs und einem des Zentralismus mit weniger Subsidiarität, mehr Reglementierung und weniger Wettbewerb, mehr Umverteilung und weniger Leistung, mehr Uniformität. Exemplarisch für diese beiden Konzepte stehen Deutschland und Frankreich.

Emmanuel Macron ist ein klassischer Vertreter des seit 300 Jahren in Frankreich herrschenden Etatismus. Sein Programm ist geprägt von jenem Glauben an die zentrale Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft durch eine hochgebildete Schicht von Bürokraten, der in den Elite-Hochschulen gelehrt und in den Ämtern praktiziert wird. Auch in Brüssel ist diese Denkweise verbreitet. Der ehemalige österreichische EU-Kommissar Franz Fischler, wohlgemerkt von der ÖVP gestellt, wünscht sich immer noch und schon wieder die „Oberhoheit der Politik über das wirtschaftliche Geschehen“, auf Deutsch also die Planwirtschaft.

Macrons europapolitische Vorstellung ist eine Wirtschaftsregierung mit einem eigenen Haushalt. Diese Regierung der Euro-Zone müsse von einem Euro-Finanzminister, der Investitionsmittel vergibt oder in der Arbeitsmarktpolitik mitredet, geführt werden. Der französische Präsident gibt offen zu, dass das auf eine Transferunion hinausläuft, bei der die „Starken“ zahlen sollen. Mit den „Starken“ sind natürlich die Deutschen und nebenbei auch die Österreicher und Niederländer gemeint.

Christentum verdrängen

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2018 rief Sebastian Kurz zur Verteidigung des jüdisch-christlichen Erbes Europas auf. Ein junger Mann, gerade erst Kanzler geworden, erinnerte die europäischen Spitzenpolitiker daran, aus welchen Quellen das Europa, um dessen Sicherheit und zukünftige Rolle in der Welt sie sich Sorgen machen, eigentlich schöpft. Manchen wird das deplatziert vorgekommen und peinlich gewesen sein. Wo sich doch die EU einem teilweise aggressiven Säkularismus verschrieben hat und alles tut, um das Christentum aus dem europäischen Gedächtnis zu verdrängen.

Dass Kurz ausgerechnet ein Franzose mit dem Hinweis widersprach, die Berufung auf das Christentum sei der Integration von Moslems hinderlich, ist nicht ohne Ironie. Als ob der Laizismus, Frankreichs säkulare Staatsreligion, bei der Integration von Muslimen besonders erfolgreich wäre. Das war zwar nur eine Episode auf der Tagung, aber vielleicht eine charakteristische: Es könnte nämlich die allgemein beklagte Schwäche Europas auf der Weltbühne mit der Selbstvergessenheit des Kontinents zu tun haben.

Die EU wird von ihren weltpolitischen Konkurrenten, aber auch von ihren eigenen Bürgern als zunehmend entscheidungsschwach wahrgenommen. Sie ist zu groß und wirtschaftlich zu heterogen, als dass sie noch auf vielen Feldern einen Konsens erzielen könnte. Vermeintliche oder wirkliche gesamteuropäische Anliegen stoßen immer öfter auf nationale Interessen, wobei die Grenzen nicht nur zwischen West und Ost, alten und neuen bzw. neuesten Mitgliedern verlaufen. Entscheidungen zu Finanzfragen greifen meist in die Rechte der nationalen Parlamente ein und bedürfen etwa in Deutschland auch der Zustimmung des Bundesgerichtshofs.

Als Allheilmittel dagegen werden nun allgemein Mehrheitsabstimmungen in den Räten angepriesen. Das ist unrealistisch und würde nur dazu führen, dass die Ablehnung der EU weiter steigt oder die Überstimmten die Entscheidungen einfach nicht akzeptieren. Bei den Beschlüssen zur Verteilung von Migranten hat sich das schon gezeigt. Die mittelosteuropäischen Länder haben sie nicht umgesetzt, weil sie keine Immigration wollen. Das ist ihr gutes Recht, das sie sich nicht im Namen einer europäischen Idee nehmen lassen. Mit einem Europa „der verschiedenen Geschwindigkeiten“ ist dem nicht abzuhelfen, denn das setzt voraus, dass alle das gleiche Ziel haben, dem sie nur verschieden schnell zustreben. Das ist aber immer weniger der Fall.

Thomas Wieser, von 2012 bis 2018 Chef der Euro-Arbeitsgruppe, hat eine mögliche neue Funktionsweise der EU skizziert: Statt einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten wären kohärente Politikbereiche zu definieren, an denen Staaten teilnehmen können oder auch nicht. Der gemeinsame verpflichtende Kern für alle wären der Binnenmarkt mit den vier Freiheiten und die Zollunion. Darauf würden vier „Säulen“ gesetzt: Währung; Schengen/Migration; Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik; und „alles Übrige“. Innerhalb dieser Gruppen müssten sich die jeweiligen Teilnehmer Mehrheitsentscheidungen unterwerfen. Diese Konstruktion lässt auch Platz für die Kooperation mit einem außerhalb der EU stehenden Großbritannien.

Das alles geht aber nur mit einer Vertragsänderung. Verhandlungen darüber wären schwierig und langwierig, sie würden aber die EU von der mythischen Überhöhung, die sie gerade auch in diesem Wahlkampf wieder erlebt, auf den Boden der Wirklichkeit holen.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2019)

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