Im Europaparlament droht nun eine Blockade

Manfred Webers großes Ziel EU-Kommissionspräsident scheint außer Reichweite.
Manfred Webers großes Ziel EU-Kommissionspräsident scheint außer Reichweite.APA/AFP/JOHN THYS
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Weder links noch rechts der Mitte zeichnet sich eine stabile Mehrheit ab. Und das bedeutet zunächst einmal zähe Verhandlungen über den Posten des EU-Kommissionspräsidenten.

Nach vier Jahrzehnten endete am Sonntag eine Ära: Erstmals in der Geschichte der Direktwahl des Europäischen Parlaments werden Europäische Volkspartei (EVP) und Sozialdemokraten (S&D) gemeinsam keine absolute Mehrheit mehr haben. Beide mussten in Deutschland und Frankreich, den wichtigsten Mitgliedsstaaten, herbe Verluste hinnehmen. In Frankreich zitterte der Parti Socialiste bis zuletzt, ob er die Wahlhürde von fünf Prozent übertreffen würde. In Deutschland wiederum ist die SPD nur mehr drittstärkste Partei, hinter den Grünen. Doch auch die CDU/CSU verlor stark – trotz ihres deutschen Spitzenkandidaten Manfred Weber. Die EVP sank nach ersten Berechnungen um 43 Mandate, die S&D verlor 44 Abgeordnete gegenüber ihrem aktuellen Mandatsstand. Die beiden Parteienfamilien können es sich somit nicht mehr untereinander ausmachen, wer Präsident des Parlaments wird, und vor allem: Sie können – so sehr sie beide sich auch zum Spitzenkandidatenmodell bekennen – allein keine Ansprüche darauf erheben, wer der künftige Chef der Europäischen Kommission werden soll.

Vor fünf Jahren war das noch ganz anders. „Der Kandidat der größten Gruppe, Jean-Claude Juncker, wird als Erster versuchen, die erforderliche Mehrheit zu bilden“, teilte damals das Präsidium im neu gewählten Parlament am 27. Mai 2014 den Staats- und Regierungschefs mit. Weil die großen Fraktionen des Parlaments geeint hinter Juncker stand, stimmten die Staats- und Regierungschefs seiner Bestellung letztlich zähneknirschend zu.

(c) Die Presse

Viererbande für Europa

Diese Einigkeit des Parlaments ist Geschichte. Weder links noch rechts der Mitte sind ab dieser Wahl stabile Mehrheiten möglich. „Die ,Orbán-Koalition‘, also EVP und alles, was rechts davon ist, hätte rein rechnerisch vielleicht eine ganz knappe Mehrheit, ist aber politisch nicht vorstellbar, weil die deutliche Mehrheit der EVP sich darauf nicht einlassen wird“, hielt der deutsche Grüne Reinhard Bütikofer fest , der über Parteigrenzen hinweg für seine scharfsinnigen Analysen respektiert wird. „Die ,Timmermans-Koalition‘, von der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken bis zur Allianz der Liberalen und Demokraten oder, wie Manfred Weber höhnte, von Wagenknecht bis Christian Lindner, kommt an die Mehrheitslinie von 376 Sitzen nicht heran.“

So bleibt nur eine Option: eine große proeuropäische Koalition von EVP, S&D, und Liberalen (sie hätte voraussichtlich eine klare Mehrheit von mindestens 430 Abgeordneten) – sowie, angesichts ihres starken Abschneidens, den Grünen. Diese Variante „hätte eine größere Mehrheit, aber auch deutlich größere politische Spannbreite und größere Widersprüche, wenn sie denn überhaupt zustande zu bringen wäre“, wendet Bütikofer ein. Eine solche parlamentarische Viererbande müsste sich über wesentliche Fragen einigen, beginnend mit der nach dem nächsten Parlamentspräsidenten. Der belgische Fraktionschef der Liberalen, Guy Verhofstadt, spitzt auf dieses Amt. Zugleich wird die EVP als größte Fraktion ebenfalls einen Anspruch auf diesen Chefsessel anmelden. Der Name der bisherigen irischen Vizepräsidentin des Parlaments, Mairead McGuinness, zirkuliert seit Längerem. Denkbar wäre, dass EVP und Liberale sich das Präsidentenamt so teilen, wie es EVP und Sozialdemokraten bisher taten – jeweils für zweieinhalb Jahre.
Diese Personalfrage wird verhältnismäßig einfach zu beantworten sein.

Die wirklich harte Nuss ist jedoch die Einigung auf den künftigen Kommissionspräsidenten. Würden die Sozialdemokraten den Christlichsozialen Weber unterstützen – oder die EVP den Sozialdemokraten Frans Timmermans? Wohl kaum, wenn man sich den im Vergleich zum Jahr 2014 teilweise ziemlich feindseligen Wahlkampf der beiden großen Lager vor Augen führt. Und abgesehen davon: Wieso sollten die Liberalen und Grünen Weber stützen? Als mögliche Kompromisskandidatin ist deshalb nach wie vor die liberale bisherige dänische Kommissarin Margarethe Vestager im Gespräch. Sie hat Sympathisanten in allen proeuropäischen Parteien und wäre die erste Frau auf diesem Posten.

Timmermans hat bereits angekündigt, keinen „Anspruch“ auf das Amt zu ergeben - seine politische Fraktion habe verloren, deshalb „müssen wir bescheiden sein“. Weber machte jedenfalls schon Druck für seine Ambitionen. Der EVP-Spitzenkandidat hat in der Nacht auf Montag bereits gefordert, dass das EU-Parlament einen Spitzenkandidaten zum nächsten EU-Kommissionspräsidenten macht, und keinen anderen Kandidaten unterstützt. Das EU-Parlament sollte diese Position in den nächsten Tagen klar machen.

Regierungschefs gestärkt

Denn die Pattstellung im Parlament spielt den Staats- und Regierungschefs in die Hände. Sie können am Dienstag bei ihrem informellen Dinner Krokodilstränen darüber vergießen, dass der Spitzenkandidatenprozess leider, leider nicht zu einem schlüssigen Ergebnis geführt habe. Weshalb, wie in Artikel 17 Absatz 7 des EU-Vertrags vorgeschrieben, sie den Kommissionspräsidenten vorschlagen, „nach entsprechenden Konsultationen“ mit dem Parlament.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2019)

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