Brexit-Hardliner Farage feiert sich bereits als „Königsmacher“, während mögliche May-Nachfolger ihre Kandidatur anmelden. Die Liberalen feiern ein Comeback.
Großbritannien hatte zwar schon am Donnerstag die Europawahl durchgeführt, mit der Auszählung der Ergebnisse mussten die Briten aber warten, bis das letzte Wahllokal am Kontinent Sonntagabend geschlossen wurde. Am Sieg der Brexit Party des Nationalpopulisten Nigel Farage bestand jedoch kein Zweifel: Sie kam nach ersten Auszählungen auf 31,6 Prozent der Stimmen oder 28 Sitze, gleich viel wie die Lega des italienischen Vizepremiers Matteo Salvini und um fünf mehr als die CDU der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Damit wird sie die größte Einzelpartei im neuen Europaparlament.
Ehe das Wahlergebnis noch ausgezählt war, erklärte sich Farage gestern bereits zum künftigen „Königsmacher“ der britischen Politik: „Wen immer die Konservativen jetzt (zum neuen Parteiführer, Anm.) wählen, ohne meine Unterstützung werden sie die nächsten Wahlen nicht gewinnen.“ Sein einziger Programmpunkt: Umsetzung des Brexit – unter allen Umständen und auf alle Kosten. „Dafür gehe ich auch einen Pakt mit dem Teufel ein“, hatte Farage im Wahlkampf erklärt.
Um einen ähnlich schwierigen Posten, nämlich den des Premierministers, setzte am Wochenende nach der Rücktrittsankündigung von Theresa May ein richtiges Wettrennen an. Mit Boris Johnson, Matt Hancock, Esther McVey, Rory Stewart, Andrea Leadsom, Jeremy Hunt, Dominic Raab und Michael Gove kündigten acht Bewerber mit Regierungserfahrung ihre Kandidatur an. Erwartet werden auch Bewerbungen der Minister Sajid Javid und Penny Mordaunt sowie des Parteigranden Graham Brady.
Der neue konservative Parteiführer wird eine zutiefst zerstrittene und demoralisierte Truppe übernehmen. Bei der Europawahl stürzten die Tories mit nur 9,1 Prozent hinter die Grünen, die 12,1 Prozent erreichten, auf den fünften Platz ab (von 23,9 Prozent in der EU-Wahl 2014). Ihr Europaabgeordneter Daniel Hannan warnte: „Uns droht die völlige Vernichtung“, im neuen Europaparlament könnten die Tories sogar „ohne Sitz“ bleiben. Bisher stellten sie 19 Europaabgeordnete.
Massenmobilisierung der Brexit-Hardliner blieb aus
Den Schmerz über ihre Debakel durfte die Regierungspartei aller Voraussicht nach mit der oppositionellen Labour Party teilen. Sie landete auf 14,1 Prozent (2014: 25,4 Prozent). Dass der Kurs des Lavierens in der Brexit-Frage von vielen Wählern nicht goutiert wurde, ließ auch das erwartete Comeback der Liberaldemokraten erkennen: Mit 20,3 Prozent erreichte die klare Anti-Brexit-Partei Platz zwei.
Entscheidend in der Beurteilung des Ergebnisses war daher nicht das Abschneiden der Parteien, sondern der Lager. Die von Farage verkündete Massenmobilisierung der Brexit-Hardliner dürfte ausgeblieben sein. Mit einem Anstieg auf 38 Prozent nahm die Wahlbeteiligung ersten Prognosen zufolge gegenüber 2014 um nur zwei Punkte zu. Die Wahlforscher Politics UK meldeten starke Zuwächse in Pro-EU-Wahlkreisen, während in Labour-Bezirken die geringste Beteiligung verzeichnet wurde. Labour-Vize Tom Watson räumte ein, man sehe den Wahlergebnissen „mit einer gewissen Verzweiflung“ entgegen und forderte eine Festlegung seiner Partei auf ein neues Brexit-Referendum: „Wir müssen endlich Farbe bekennen.“
Auch die Kandidaten um Mays Nachfolge versprechen Festlegungen. Keiner von ihnen will einen Verbleib in der EU. Die große Trennlinie zeigt, ob Großbritannien mit oder ohne Deal ausscheidet. Johnson machte schon klar, dass er notfalls auch ohne Abkommen die EU verlassen möchte. Sein einstiger Brexit-Mitstreiter und heutiger Widersacher, Umweltminister Gove, gab sich versöhnlicher. Der frühere Brexit-Minister Dominic Raab zeigte sich etwas weniger aggressiv als üblich und betonte, er strebe keinen No-Deal-Brexit an, würde diese Option in künftigen Verhandlungen mit der EU aber offenhalten. In dem für die Konservativen typischen Fehlverständnis der wahren Kräfteverhältnisse sagte Raab: „Wenn Europa auf uns zurückkommen möchte, sind wir immer zu einer besseren Vereinbarung für sie bereit.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2019)