Andrea Nahles stellt sich zur (Ab-)Wahl

Spätestens seit Sonntag ist Andrea Nahles nur noch Parteichefin auf Abruf.
Spätestens seit Sonntag ist Andrea Nahles nur noch Parteichefin auf Abruf.(c) REUTERS (AXEL SCHMIDT)
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Nach dem historischen Wahldebakel geht die SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende in die Offensive.

Berlin. Es gibt gute Nachrichten. Aus Cuxhaven. Ein Sozialdemokrat hat in der Stadt an der Nordsee die Bürgermeisterwahl gewonnen. SPD-Chefin Andrea Nahles zählt auch noch ein paar andere „deutliche Wahlerfolge“ in deutschen Gemeinden auf. Aber das soll nicht täuschen. Gut geschlafen habe sie nicht nach dieser sonntäglichen „Zäsur“, wie Nahles den Ausgang der EU-Wahl nennt, also das schlechteste SPD-Ergebnis der Nachkriegsgeschichte (15,8 Prozent). Zum ersten Mal überhaupt waren die Sozialdemokraten bei einer bundesweiten Wahl hinter den Grünen gelandet – und zwar deutlich. Zeitgleich ging nach 73 Jahren Platz eins in der roten Bastion Bremen an die CDU verloren. Nahles setzt das am Montagnachmittag hörbar zu. Aber personelle Konsequenzen schließt die Parteiführung zu diesem Zeitpunkt praktisch aus.

Ein paar Stunden später geht Nahles dann in die Offensive. Sie kündigt im ZDF vorgezogene Wahlen des Fraktionsvorsitzes an. Sie sollen statt im September schon nächste Woche stattfinden. Nahles ist nicht nur Partei- sondern auch Fraktionschefin (vulgo Klubobfrau im Parlament). Es ist ihre Antwort auf die Putschgerüchte der letzten Zeit. Ihre interne Kritiker fordert Nahles geradezu heraus, sich aus der Deckung zu wagen. Es sollten nun „alle, die einen anderen Weg gehen wollen, auch sagen: ,Ich kandidiere.'“. Sie wolle das „offen austragen“. Nahles gehe „all in“, lautet einer der ersten Kommentare – volles Risiko.

Selbst Martin Schulz, der gescheiterte Kanzlerkandidat, soll zuletzt seine Chancen auf den Fraktionsvorsitz ausgelotet haben. Seine Chancen sind freilich gering. Auch über ihren bisherigen Fraktionsvize Achim Post wurde als möglichen Konkurrenten spekuliert. Ob er tatsächlich eine Kampfkandidatur wagt, ist aber noch ungewiss.

Nahles' Beliebtheitswerte sind zwar schlecht, ihre flapsigen Sprüche („Bätschi, bätschi“, „in die Fresse“) sorgen zuweilen für Irritationen. Als künftige Kanzlerkandidatin sieht sie niemand in der SPD. Und nach den Wahlpleiten ist sie tatsächlich angezählt. Für Nahles spricht aber, dass sich in den Reihen der SPD kein großer Hoffnungsträger aufdrängt. Und dass die jüngere Parteigeschichte lehrt, dass der Wechsel von Führungspersonal allein nicht hilft. Die SPD hat in der Ära Angela Merkel schon einige Fraktions- und Parteichefs verbraucht. Und es ging stets weiter bergab. „Wenn es immer nur ein Traineraustausch wäre, hätte die SPD immer große Erfolge gehabt“, meinte der parlamentarische Geschäftsführer der Partei, Carsten Schneider. Nahles' Herausforderer könnten auch die Landtagswahlen im Herbst zuwarten wollen. Die erwarteten Verluste dort muss man dann nicht verantworten. Ob Nahles nächste Woche tatsächlich gestürzt wird, ist daher offen.

Wolfgang Merkel ist ein renommierter Demokratieforscher und weder verwandt noch verschwägert mit der Kanzlerin. Im Gegenteil: Merkel wählt SPD. Seit Jahrzehnten. Die SPD könne nun nicht so tun, als hätten die Wahlpleiten nicht auch mit Performance und Glaubwürdigkeit der Parteiführung und ihrer Minister zu tun, sagt er zur „Presse“. Nahles müsse eines ihrer Ämter abgeben. Und die SPD die Große Koalition verlassen. Das sei jetzt eine „existenzielle Frage“ für die Partei. Sie müsse ihre „Angestaubtheit“ und ihr schlechtes Image abschütteln, meint er. Dazu brauche es die Oppositionsrolle, ohne großkoalitionäre Kompromisse.

Aufstand der Jungwähler

Vor allem die jungen Deutschen rebellierten am Sonntag gegen die Regierung in der Wahlkabine. CDU/CSU und SPD erhielten von den Unter-30-Jährigen zusammen weniger Stimmen als die Grünen. Auch das eine Zäsur. Beide Regierungslager räumten nun recht deutlich ein, dass sie das Thema Klimaschutz versemmelt haben. Ein junger Youtuber namens Rezo war auch deshalb über die CDU in einem Video hergezogen. Der Beitrag wurde mehr als elf Mio. Mal aufgerufen. Die CDU war damit überfordert. „Die Ressourcen, die wir in der Online-Kommunikation haben, sind viel zu gering“, gestand CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak.
Strategisch steckt die CDU im Dilemma: Am 1. September sind Wahlen in Sachsen und Brandenburg. In beiden ostdeutschen Bundesländern eroberte die AfD bei der EU-Wahl Platz eins, obwohl sie deutschlandweit mäßig abschnitt (11 Prozent). Mit einer forschen Klimapolitik gewinnt die CDU an die AfD verlorene Wähler eher nicht zurück.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2019)

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