Pop

Geschäftsmodell: Unwürdig altern

Vom Business verstehen Kiss genauso viel wie von Pyrotechnik und Lärm erzeugendem Handwerk. Besonders der auf der Bühne Feuer speiende und Blut spuckende Gene Simmons, der sich im wirklichen Leben gern auf dem Börsenparkett bewegt.
Vom Business verstehen Kiss genauso viel wie von Pyrotechnik und Lärm erzeugendem Handwerk. Besonders der auf der Bühne Feuer speiende und Blut spuckende Gene Simmons, der sich im wirklichen Leben gern auf dem Börsenparkett bewegt.APA/HANS KLAUS TECHT
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Kiss zeigten auf ihrer Abschlusstour noch einmal ihre Markanz. Inmitten von Böllern rubbelten sie bekömmliche Riffs und predigten die Schönheit des Glamrock.

Das hatte etwas von einem Veteranentreffen: Praktisch jeder Besucher der Stadthalle trug ein mehr oder weniger verwaschenes Band-T-Shirt. Etliche auch jenes mit dem originalen Bandlogo, wo das Doppel-S noch wie die berüchtigte Siegrune aus völkischen Vorzeiten geschrieben war. Das wurde in den Achtzigerjahren für Mitteleuropa entfernt, mittlerweile blinkt dieses Logo in seiner traditionellen Form wieder auf dem LED-Bühnenbildschirm. Als Einzugsmusik hatte sich die Band „Rock And Roll“ von Led Zeppelin auserkoren. Obwohl Einzug nicht der präzise Terminus ist. Vielmehr schwebten Kiss auf güldenen, oktagonalen Flächen von der Decke herab. Dies in exakt jenem unwürdigen Ornat aus Plateaustiefeln, Fledermausflügerln und Make-up, das jetzt schon die dritte Generation zur Nachahmung reizt. Gar nicht so wenige hatten sich ihre Gesichter nach den visuellen Vorgaben der vier Charaktere Demon, Catman, Starchild und Spaceman angemalt.

Gleich mit dem Opener „Detroit Rock City“ zeigte die Band Muskeln. Funkenschlag und Detonationen behübschten die von der Struktur höchst simple Nummer. Kiss, das war nie eine Band der schwindelerregenden Soli und der abenteuerlich gebauten Lieder. Mit ihrem Debütalbum 1974 kam sie gerade einmal auf Platz 84 der US-Charts. Kaum jemand hätte ihr damals 45 Jahre an der Spitze des Business gegeben. Unbeeindruckt von allen Wechseln des Zeitgeists haben sich die Bandbegründer Paul Stanley und Gene Simmons ein kuscheliges Krachbiotop angelegt, das nicht zuletzt dank seiner Cartoonhaftigkeit, zum zeitlosen Bestseller geworden ist.

Ungeniert böllernde Songs

Mit lapidar betitelten, aber ungeniert böllernden Songs wie „Shout It Out Loud“ und „Say Yeah“ zündeten sie erste Raketen. Mit „Deuce“ war sogar ein Lied im Repertoire, das vom ersten Demo-Band stammt. Mögen sich Kiss auch nicht mehr so flink bewegen, ihre Wirkung verfehlen sie nicht. Trotzdem wollen sie sich jetzt vom Tourneegeschäft zurückziehen. Mal sehen. Sollte es so sein, dann bleiben immerhin noch die 5000 Merchandise-Artikel, die sie derzeit verkaufen.

Vom Business verstehen sie nämlich genauso viel wie von Pyrotechnik und lärmerzeugendem Handwerk. Besonders der auf der Bühne feuerspeiende und blutspuckende Gene Simmons, der sich im wirklichen Leben gern auf dem Börsenparkett bewegt. Folglich ist er als Interviewpartner auf den Wirtschaftsseiten noch begehrter als auf den Feuilletonseiten. Simmons im O-Ton: „Meine bevorzugte Anlageform bin ich selbst. Man sagt ja immer, man solle die Produkte verstehen, auf die man sein Geld setzt. Also bringe ich nicht mein finanzielles Eigenkapital, sondern meine ,Sweat Equity‘ ein, quasi die Marke, die ich mir im Schweiße meines Angesichts selbst geschaffen habe.“

Die raue, aber doch freundliche Musik ist längst nur noch Teil dieser Marke. Zweifelsohne aber ein sehr beliebter Teil. Das ätzende „Lick It Up“, von dem es auch eine beachtliche Version der hiesigen Nachwuchsband Nagelstudio gibt, war ein erstes Highlight. Das epische Schlagzeugsolo in „100000 Years“ war zwar eher lähmend, dafür wurde ein Klassiker wie „I Was Made For Lovin´ You“ gefährlich zugespitzt. Zum erwarteten Stimmungsklimax wurde „Rock And Roll All Nite“, in dessen haltlosem Tosen Schicksalsergebenheit und Trotz ununterscheidbar wurden. Jetzt waren viele Augen nass.

Abschiedstourneen von Veteranen wie Kiss häufen sich. Sie sind auch ein Farewell an die Sozialisationsform Rockfan, eines Typus, der für das, was er liebt, blutet. Derlei Leidenschaft vermeiden zeitgenössische 10-Euro-Streaming-Abonnenten. Sie begreifen nicht, dass die Magie des Pop aus dem Wechselspiel der Kräfte erwächst. Im existenzphilosophischen Liedtext fassen es Kiss schlicht so: „You drive us wild, we'll drive you crazy.” Und so geschah es auch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2019)

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