Expertenregierung? Italien und Tschechien machen es vor

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In Europa gab es seit 1945 schon mehrmals Kabinette, die ganz oder teilweise aus parteiunabhängigen Experten bestanden. Ganz oben auf der Liste steht Italien.

Eine Regierung, die teils oder ganz aus parteiunabhängigen Experten besteht, gilt in der modernen parlamentarischen Demokratie als Ausnahmeerscheinung. Meistens erhalten solche Kabinette in Krisenzeiten eine Rolle und sollen meistens nur übergangsweise - bis zu Neuwahlen - eine handlungsfähige Staatsführung sicherstellen. In Europa gab es seit 1945 bereits mehrmals Regierungen, die ganz oder teils aus parteiunabhängigen Experten bestanden. Allen voran in Italien und Tschechien.

Italien

Ciampi-Kabinett (1993-1994): Nach dem Zusammenbruch des italienischen Parteiensystems im Mani-pulite-Schmiergeldskandal beauftragte Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro den parteiunabhängigen Nationalbankgouverneur Carlo Azeglio Ciampi mit der Regierungsbildung. Das Kabinett bestand zum Teil aus Experten, zum Teil aus Politikern verschiedener Parteien. Es war bis zum ersten Wahlsieg von Silvio Berlusconis Forza Italia im Amt.

Dini-Kabinett (1995-1996): Nachdem das erste Berlusconi-Kabinett durch den Austritt der Lega Nord die Mehrheit verloren hatte, beauftragte Präsident Scalfaro den parteiunabhängigen Schatzminister Lamberto Dini mit der Regierungsbildung. Diesmal handelte es sich um eine reine Expertenregierung. Sie endete mit dem Wahlsieg des Sozialdemokraten Romano Prodi.

(c) REUTERS (Luis D´Orey)

Monti-Kabinett (2011-2013): Inmitten der internationalen Finanz- und Schuldenkrise beauftragte Staatspräsident Giorgio Napolitano nach dem Ende von Berlusconis vierter Regierung den früheren EU-Wettbewerbkommissar Mario Monti mit der Bildung einer Expertenregierung. Diese regierte 18 Monate lang, bis sie nach den Wahlen vom Februar 2013 von einer linksgerichteten Regierung unter Führung von Enrico Letta abgelöst wurde.

Outgoing Prime minister Mario Monti speaks during a rally in Florence
Outgoing Prime minister Mario Monti speaks during a rally in FlorenceReuters

Tschechien

Tosovsky-Kabinett (1998): Nach dem Ende der zweiten Regierung des Konservativen Vaclav Klaus aufgrund einer Parteispendenaffäre beauftragte Staatspräsident Vaclav Havel den Gouverneur der Nationalbank, Josef Tosovsky, mit der Bildung einer Übergangsregierung. Das Kabinett aus Experten und Parteipolitikern amtierte bis zur Angelobung der sozialdemokratischen Regierung von Milos Zeman.

Fischer-Kabinett (2009-2010): Im Frühjahr 2009 scheiterte die zweite Regierung des Konservativen Mirek Topolanek an einem Misstrauensvotum - und das mitten in der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft. Der nunmehrige Staatspräsident Vaclav Klaus beauftragte daraufhin den parteilosen Statistiker Jan Fischer mit der Bildung einer Übergangsregierung. Die Regierungsmitglieder wurden von der konservativen Bürgerpartei (ODS), den Sozialdemokraten (CSSD) und den Grünen (SZ) nominiert. Das Kabinett wurde im Folgejahr nach einer Parlamentswahl von der Regierung des Konservativen Petr Necas abgelöst.

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Rusnok-Kabinett (2013-2014): Als Staatspräsident ernannte Milos Zeman im Sommer 2013 eine reine Expertenregierung unter der Führung des ehemaligen Industrieministers Jiri Rusnok gegen den Widerstand der Parteien. Zeman hatte nicht die konservative Präsidentin des Abgeordnetenhauses, Miroslava Nemcova, als Nachfolgerin von Petr Necas zur Regierungschefin ernennen wollen. Das Rusnok-Kabinett verlor zwar bereits im August eine Vertrauensabstimmung, blieb aber dennoch bis Jänner 2014 im Amt, als es nach monatelanger, schwieriger Regierungsbildung vom Kabinett des Sozialdemokraten Bohuslav Sobotka ersetzt wurde.

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Bulgarien

Orescharski- und Blisnaschki-Kabinette (2013-2014): Nach der Parlamentswahl 2013 erhielt die bis dahin regierende Partei GERB von Premier Bojko Borissow keine Regierungsmehrheit. So bildete der frühere Finanzminister Plamen Orescharski eine Regierung aus Experten sowie Vertretern der Sozialisten und der türkischen Minderheitenpartei DPS. Die Regierungszeit des Orescharski-Kabinetts war von schweren Skandalen überschattet, insbesondere um die umstrittene Ernennung des Oligarchen Deljan Peewski zum Chef des Inlandsgeheimdienstes DANS. Nach Massenprotesten musste Peewski das Amt räumen. Premier Orescharski trat im Juli 2014 zurück und wurde übergangsweise durch Georgi Blisnaschki ersetzt, der die Regierungsgeschäfte bis November führte, als nach Neuwahlen erneut Borissow Regierungschef wurde.

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Dauerhafte Experten an der Spitze

In mehreren weiteren Fällen amtierten übergangsweise oder sogar dauerhaft parteiunabhängige Persönlichkeiten an der Spitze von politisch besetzten Regierungen.

So geschah es etwa 2011-2012 unter Lukas Papadimos in Griechenland. Hier führte der vormalige Vizepräsident der Europäischen Zentralbank (EZB) mitten in der griechischen Schuldenkrise eine Übergangs-Koalitionsregierung aus der konservativen Nea Dimokratia und den Sozialisten (PASOK). Nach einer Parlamentswahl, die keine regierungsfähige Mehrheit brachte, wurde sein Kabinett durch eine Expertenregierung des Richters Panagiotis Pikrammenos ersetzt, die allerdings nur einen Monat - bis zur Regierungsbildung nach einer erneuten Wahl durch den Konservativen Antonis Samaras im Juni 2012 - im Amt war.

In Ungarn leitete nach dem Rücktritt des sozialistischen Regierungschefs Ferenc Gyurcsany der parteifreie Gordon Bajnai die sozialistische Minderheitsregierung (2009-2010), in der auch parteilose Persönlichkeiten saßen. Der Wirtschaftsexperte führte das Land durch die Finanzkrise bis zum überwältigenden Wahlsieg des Rechtsnationalisten Viktor Orban im April 2010.

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Als ähnlicher Fall könnte heute die derzeitige Koalition in Italien von Fünf-Sterne-Bewegung und Lega interpretiert werden, die unter der Leitung des parteifreien Juristen Giuseppe Conte steht.

(APA)

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