„Illegal“ per Protektion

War Roland Rainer ein „illegales Mitglied der NSDAP seit März 1936“, wie Wikipedia behauptet? Ein Nachtrag zu Rainers 100. Geburtstag und zu Liesbeth Waechter-Böhms Würdigung im „Spectrum“.

Es gibt kaum einen zweiten Architekten und Städtebauer in Österreich der so sehr seine geistige Heimat, seine philosophischen und kulturellen Leitbilder in mehr als zwölf Büchern, in Theorie, Praxis und in Bauten erklärt und gezeigt hat wie Roland Rainer. Statt sich mit seinen nicht zeitgebundenen, von Verantwortung getragenen Vorstellungen über Gestaltung und mit seinen kritischen Erkenntnissen und Lehrmeinungen zu Bauwerk und Landschaft auseinanderzusetzen, wird seit rund 20 Jahren versucht, mit Verdächtigungen zur NS-Ära, dem auszuweichen.

Die nachfolgenden Ausführungen sind durch Bestände im Bundesarchiv Berlin und im Archiv der Republik in Wien sowie durch andere Quellen belegt. Sie sind ein Auszug aus einem in Vorbereitung befindlichen Buch über Roland Rainer, Architekt zwischen Städtebau und Politik.

Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten am 11. März 1938 war in Wien die Mitgliederaufnahme in die NS-Partei bis 11. Dezember 1939 gesperrt. Die Aufnahme wurde durch eine Anweisung des Gauleiters von Wien, Josef Bürckel, vom 28.April 1938 geregelt. Demnach sollten alle erfasst werden, die bisher Mitglieder waren, und jene, die bis zum 11. März 1938 durch ihre Betätigung als Nationalsozialisten die Voraussetzungen für den Umbruch geschaffen hätten. Die Erfassung dieser beiden Personenkreise wurde den Ortsgruppenleitern übertragen. Interessenten hatten einen Antrag auf Ausstellung einer vorläufigen Mitgliedskarte zu stellen.

Roland Rainer, im autoritären Ständestaat, obwohl Mitglied der Einheitspartei „Vaterländische Front“, arbeitslos, hielt sich seit April 1936 in Berlin auf, um dort eine Anstellung zu suchen. Er fand sie schließlich bei der Preußischen Bau- und Finanzdirektion, im Stadtplanungsamt der Reichshauptstadt. Am 8. August 1938 reichte er, damals 28 Jahre alt, einen „Personal-Fragebogen zum Antragschein auf Ausstellung einer vorläufigen Mitgliedskarte und zur Feststellung der Mitgliedschaft im Lande Österreich“ ein. In diesem Fragebogen gab Rainer an, von Jänner bis April 1936, ohne Angabe eines Tagesdatums, Mitglied der illegalen NSDAP-Ortsgruppe Neu-Breitensee in Wien gewesen zu sein. Die Frage „Ist die Mitgliedsnummer von der Reichsleitung bestätigt?“ beantwortete er mit einem Nein.

„Vorläufige grüne Mitgliedskarte“

Dennoch kam der Ortsgruppenleiter von Neu-Breitensee, Josef Tauchen, von Beruf Beamter, am 3. September 1938 zu folgender Beurteilung: „Dr. Roland Rainer wird zur Aufnahme in die NSDAP befürwortet.“ Am 27. Jänner 1939, also noch zur Zeit der Aufnahmesperre, bekam Rainer daraufhin vom Reichsamtsleiter in München die Mitteilung, dass „dem Antrag auf Eingliederung in die NSDAP im Lande Österreich stattgegeben wurde“. Er bekam gleichzeitig die „vorläufige grüne Mitgliedskarte“ mit der Nummer 6,199.187. Die Aufnahme erfolgte in solchen Fällen generell rückwirkend mit 1. Mai 1938.

Über diese Verfahren schrieb im Jahre 1947 Hugo Meinhart, Rechtsanwalt in Wien, in einer Broschüre „unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes nach dem Stand vom 1. Mai 1947“ zum Thema Illegalität: „Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, dass das sogenannte Erfassungsverfahren nicht vorschriftsmäßig durchgeführt wurde und dass viele Antragsteller, die bloß in die Partei aufgenommen werden wollten, sich niemals vorher für die NSDAP betätigt hatten, also niemals illegal waren, auch wenn sie eine vorläufige grüne Mitgliedskarte mit dem Aufnahmedatum 1.Mai 1938 und einer Mitgliedsnummer bis einschließlich 6,600.000 bekamen. Diese Tatsache, dass die Parteipraxis von den Erfassungsvorschriften wesentlich abgewichen ist, ist allgemein bekannt und von den höchsten Stellen der Zweiten Republik Österreich anerkannt worden.“

Meinhart zitierte aus dem Buch von Anton Mahnig über das Wirtschaftssäuberungsgesetz aus Jahre 1946: „Die Mitgliedsnummer des erwähnten Nummernblocks und der Aufnahmetag 1. Mai 1938 genügen jedoch nicht für die Annahme der Illegalität. Die Erfahrung hat gelehrt, dass die Zuteilung einer Mitgliedsnummer des erwähnten Nummernblocks entgegen der obigen Anordnung“ – gemeint ist die erwähnte Anordnung vom 28. April 1938 des Gauleiters Bürckel – „auch an Personen erfolgt ist, die sich in der Verbotszeit niemals als Nationalsozialisten betätigt haben. Dies geschah nicht nur auf Grund persönlicher Begünstigung oder gegen Entgelt, sondern auch ohne Zutun des Betroffenen nur aus dem Grunde, weil der Ortsgruppenleiter oder Kreisleiter in seinem ,Hoheitsgebiete‘ aus optischen Gründen eine möglichst große Anzahl ,Illegaler‘ ausweisen wollte.“

Dies trifft auch auf Roland Rainer zu. Die Bestätigung der dreimonatigen „Illegalität“ war ein Gefälligkeitsgutachten. Rainer hatte in seiner Schulzeit in der Bundeserziehungsansalt in Wien-Breitensee einen Förderer und Berater gefunden, der ihn bis in die Nachkriegsjahre zur Berufung an die Akademie der bildenden Künste in Wien im Jahre 1956 begleitete: Karl Grutschnig (1888 bis 1965), akademischer Maler und Bildhauer. Er wurde als Professor (Studienrat) zu einem international angesehenen Wegbereiter der Werkerziehung.

Grutschnigs Ehe blieb kinderlos, er sah in seinem Schüler Roland eine Art Ziehsohn. Als Rainer vor der Studienwahl stand und zwischen Architektur und Biologie schwankte, riet ihm Grutschnig zu Ersterem. Grutschnig arbeitete im NS-Lehrerbund und hatte eine bewegte Parteizugehörigkeit. Er ermunterte auch Rainer, einen Schritt in diese Richtung zu tun, und konnte ihm dabei, trotz der Aufnahmesperre, leicht helfen: Seine Ehefrau war die Schwester des oben genannten Ortsgruppenleiters Josef Tauchen, der alles nötige bestätigte. Die in der Wikipedia behauptete (und von Liesbeth Waechter-Böhm in ihrer „Spectrum“-Würdigung vom 30. April zitierte) „Illegalität“ Rainers ist also im Lichte dieser Tatsachen nicht aufrechtzuerhalten.

Wie absurd sich die damaligen Vorgänge gestalteten, zeigt ein Schreiben, das der Kreisleiter Hermann Pangerl, von Beruf wissenschaftlicher Assistent, am 3. April 1939 an den Stadtschulrat für Wien gerichtet hat. Dort heißt es über Karl Grutschnig: Er sei zwar „politisch wie charakterlich als gänzlich einwandfrei zu bezeichnen. Besondere Verdienste um die Bewegung hat er jedoch in der illegalen Zeit nicht aufzuweisen und kann daher nicht als alter Kämpfer bezeichnet werden.“

Roland Rainer bekam also Ende Jänner 1939 eine „vorläufige“ grüne Mitgliedskarte, ob er je ein ordentliches „rotes“ Mitgliedsbuch bekommen hat, lässt sich nicht belegen. Das erhaltene Gau-Karteiblatt in Berlin enthält außer dieser Eintragung keine Vermerke über sonstige Abläufe. So könnte seine Parteizugehörigkeit aus mehreren Gründen bald wieder geendet haben.

In der „Freitagsgruppe“

Eine Besonderheit der grünen Karte war, dass bei Nichtzahlung der Beiträge der Inhaber seiner vorläufigen Mitgliedschaft automatisch verlustig ging. Dessen ungeachtet verlor die Karte allgemein nach Ablauf des 30. April 1940 ihre Gültigkeit. Zu dieser Zeit war Rainer schon als Schütze der Infanterie beim Ersatzbataillon 466 der Wehrmacht in Schwerin. Nach dem Wehrgesetz von 1935 ruhte die Parteimitgliedschaft für die Dauer des aktiven Wehrdienstes, das war bei Rainer der 29. Juni 1944. Abrüstungsdienstgrad: Gefreiter.

Sehr bald begann Rainer in Berlin, in der Deutschen Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung, wissenschaftlich zu arbeiten. Der Akademie ist es in der NS-Zeit gelungen, so der bekannte ihr Nestor, Gerd Albers, 1997, „ein gewisses Eigenleben zu bewahren“, dem Druck nach parteipolitischer Ausrichtung zu widerstehen und eine Stütze der freien Wissenschaft zu bleiben.

Außerdem schloss sich Rainer der „Freitagsgruppe“ an. Diese lockere oppositionelle Vereinigung traf sich anfänglich bis 1937 wöchentlich im Büro von Ludwig Hilberseimer (ehemals Bauhaus). Ziel war, eine geistige Kraft gegen den offiziellen Repräsentationsstädtebau Hitlers und Speers zu schaffen und zu verbreiten. Der Gruppe gehörten zunächst unter anderem Gustav Hassenpflug, Walter Gropius, Hugo Häring, Hubert Hoffmann, die Brüder Hans und Wassili Luckhardt, Mies van der Rohe, Martin Wagner und Hans Scharoun an.

Von seiner Bildung her, war Rainer jeder parteipolitischen Trivialideologie, besonders den totalitären, abhold. Studium und Praxis machten ihn früh zu einem Verfechter der englischen und deutschen Gartenstadt-Gedanken, des Reihenhauses, einer ganzheitlichen Stadtplanung und einer dezentralen Selbstverwaltung. Über die Episode seiner Mitgliedschaft bei der staatstragenden Partei der NS-Diktatur stellte er 1993 fest: „Von einem vorübergehenden politischen Irrtum habe ich mich sofort distanziert, an meiner fachlichen Überzeugung von Anfang bis heute festgehalten.“ ■


Wilfried Posch, Dr. techn. habil., ist emeritierter o. Univ.-Prof. für Städtebau, Raumplanung und Wohnungswesen der Kunstuniversität Linz und korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung in Berlin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2010)

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