Nichts geht verloren

Im Garten ist alles im Wandel – mitunter auch aufgrund der Schnecken.
Im Garten ist alles im Wandel – mitunter auch aufgrund der Schnecken.(c) Ute Woltron
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Wie schön, wenn sich Vorurteile als unbegründet erweisen. Doch noch besser, wenn man erst gar keine davon aufkommen lässt. Das gilt im Garten ebenso wie im Umgang mit anderen.

Bei einer guten Hausfrau geht nichts verloren, soll meine Urgroßmutter gesagt haben, als sie eines Tages einen vermissten Fingerling beim Aufschneiden in der Blunze wiederfand. Ich stelle mir vor, wie sie ihn erfreut wusch und sauber bürstete. Möglicherweise stopfte sie ihn mit einem Stückchen Zeitungspapier aus, ließ ihn trocknen, knetete das hart gewordene Leder weich und hob den Fingerschutz für das nächste Blunzenstricken auf.

Nichts verschwindet, nichts geht wirklich verloren, alles wandelt sich lediglich über die Zeit zu anderem um. Ein Ort, an dem das Lomonossow-Lavoisier-Gesetz von der Erhaltung der Masse gründlich immer wieder studiert werden kann, ist der Garten. Ein ständiges Verwandeln, Vergehen und Wiederauferstehen ist hier im Gange. Aus Samen und Erde entstehen neue Pflanzen, im Kompost zerfallen sie binnen weniger Wochen zu Humus. Noch rascher freilich erfolgt die gründliche Verwandlung junger, frisch gesetzter Salatpflänzchen zu Schneckenkot. Nicht selten im Zeitraffertempo über Nacht.

Doch: „Nichts wird gänzlich zerstört, was wir heute lebendig um uns seh'n, Neues aus Altem erzeugt die Natur, und das Leben der Zukunft blüht in unendlichem Wechsel empor aus dem Grab des Vergangnen.“ Das schrieb Lukrez vor fast 2000 Jahren. Auch sein Gesang „Über die Natur der Dinge“ galt als verloren, ausgelöscht und von eilfertigen Mönchen von den Pergamenten geschabt, weil die atomistischen und epikureischen Lehren, die er besang, schon wenig später als Häresie galten.

Nur weil da und dort ein paar Verse in Zitaten erhalten geblieben waren, und nur weil Poggio Bracciolini den Willen aufbrachte, seine unermüdliche Suche nach dem Lied zeitlebens nicht aufzugeben, fand er schließlich 1417 ein Exemplar des Lukrez'schen Gesangs in den verstaubten Tiefen einer Klosterbibliothek. Von christlichen Texten überschrieben, doch immer noch lesbar.


Ein Bändchen um den Griff. Verlorenes im Garten wiederzufinden ist vergleichsweise belanglos, und es kann, muss aber nicht Spaß machen. Auf die rostigen Gartenscheren könnte ich ebenso verzichten wie auf die lang gesuchte, nun verdorben unter den Stauden aufgefundene Klappsäge. Das schlechte Gewissen bei ihrem Anblick befördert wenigstens die Vorsätze. Nie sollst du ohne Werkzeugkorb in den Garten gehen, und ein farbenfrohes Bändchen um die Stiele und Griffe zu binden, ist auch keine schlechte Idee.

Die alten Münzen hingegen, wie der Kreutzer aus dem Jahr 1812, gefunden im Aushubloch für die Ribiselsträucher genau 200 Jahre nach seiner Prägung, lassen die Gedanken in fernere Vergangenheiten schweifen. Wer hat den Kreuzer seinerzeit hier verloren? Wie hat das Stückchen Grund damals ausgeschaut, auf dem er so lang in seinem Erdgrab gelegen hatte? Stehen die Ribiseln heute vielleicht am Rand eines früheren, lang vergessenen Wegs?

Hocherfreulich auch mancher Fund jüngerer Vergangenheit, den man im Komposthaufen beim Umsetzen tut. Vor zumindest zwei Jahren ging das beste aller Messer verloren, ein Meisterwerk japanischer Schmiedekunst, dessen Verlust allein schon deshalb so schmerzlich war, weil irgendjemand viel Wissen und Sorgfalt in seine Herstellung gelegt hatte. Irgendwann, dachte ich, wird es irgendwo wieder auftauchen. Vielleicht im Gemüsegarten, oder im Hühnergehege. Es wird zwar verrostet und nicht mehr zu gebrauchen sein, doch wenigstens wird sein Weg ins Verderben offenbar.

Doch nichts ist unbegründeter als die dummen Vorurteile der Menschen, nichts verlogener als geheuchelte Sittenstrenge, meinte Petronius, der zu Neros Lebzeiten politische Wirrnisse, Intrigen und Irrsinn studierte, ähnlich wie wir heute. Beim Kompostschaufeln tauchte das Messer erdverkrustet wieder auf, und es war, bis auf zwei winzige Rostfleckchen, die schnell wegpoliert waren, ohne Makel und erstaunlicherweise so rasierklingenscharf wie eh und je. Wie schön, wenn sich Vorurteile als unbegründet erweisen, doch noch besser, wenn man erst gar keine aufkommen lässt. Doch das ist außerhalb der eigenen vier Zäune bekanntlich eine schwierige, vor allem wenig praktizierte und aus der dialektischen Mode gekommene Übung.


Die Diskussion. Noch ein letztes Zitat in dieser an Zitaten mit Absicht reichen Kolumne. Es stammt aus Stephen Greenblatts Buch „Die Wende“, in dem er die vorurteilsreiche Entstehungsgeschichte der Renaissance erzählt: „Es ist vor allem die Diskussion, auf die es ankommt, die Tatsache, dass wir uns so einfach verständigen können, mit einer Mischung aus Witz und Ernsthaftigkeit, ohne abzugleiten in Geschwätz oder Beschimpfungen, stets Raum lassend für abweichende Ansichten.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2019)

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