Nicht einmal die Zahl der Opfer ist bekannt!

Eine Menschenrechtsaktivistin erinnerte gestern, Dienstag, in Paris an die Szene(n) vom 4. 6. 1989 auf dem Tian'anmen-Platz.
Eine Menschenrechtsaktivistin erinnerte gestern, Dienstag, in Paris an die Szene(n) vom 4. 6. 1989 auf dem Tian'anmen-Platz.(c) REUTERS (PHILIPPE WOJAZER)
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4. Juni 1989. Auch dreißig Jahre nach den blutigen Ausschreitungen auf dem Tian'anmen-Platz in Peking schweigt die Führung der Kommunistischen Partei Chinas beharrlich und verbietet jede öffentliche Äußerung zu den Vorgängen.

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Der 4. Juni1989 war der Tag in der Volksrepublik China, an dem sich alles änderte. Dies gilt für diejenigen, die sich an den seit April andauernden Protestaktivitäten der Studierenden in Peking beteiligten, aber auch für jene, die nur beobachtend die Ereignisse verfolgt haben. Mit der blutigen Unterdrückung der Proteste in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni1989 brachen Träume und Hoffnungen, Illusionen und Theorien, individuelle Lebensentwürfe und politische Strategien zusammen. Wie viele Menschen ihr Leben dabei verloren, wissen wir bis heute nicht. Die meisten jener 180 Mütter, die sich in einer Organisation zusammengeschlossen haben, um die Wahrheit über den Tod ihrer Söhne und Töchter zu erfahren, sind inzwischen gestorben. Die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) schweigt beharrlich und verbietet jede öffentliche Äußerung zu den Vorgängen im Frühsommer 1989.

Angefangen hatte alles am 22. April mit einer Demonstration von 50.000Studierenden in Peking, die in die Innenstadt zogen, um an der Trauerfeier für den 1987 aus dem Amt des Generalsekretärs der KPCh enthobenen Hu Yaobang teilzunehmen. Hu war an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben, den er während einer Sitzung des Politbüros erlitten hatte. Er war in Ungnade gefallen, weil er zu den seit 1987 anhaltenden studentischen Unruhen eine konziliante Haltung eingenommen und deren Forderungen nach Demokratisierung unterstützt hatte. Die Anteilnahme der Pekinger Bevölkerung an seinem Tod war groß.

Gorbatschows Besuch

Obwohl zwei Tage später die „Pekinger Volkszeitung“ davor warnte, dass die Trauer um den Tod Hu Yaobangs von einigen missbraucht würde, um das ganze Land in Unruhe zu versetzen, ließen sich die Studierenden nicht aufhalten. Bald wurde der Tian'anmen-Platz besetzt, ab dem 13. Mai traten Studierende in den Hungerstreik. Zu einem international beachteten Ereignis wurde der Protest jedoch erst, als Michail Gorbatschow am 16. Mai1989 Peking besuchte und aufgrund des besetzten Platzes über eine Hintertür in die Große Halle des Volkes geführt werden musste. Es war der erste Besuch eines politischen Führers aus der Sowjetunion seit den Sechzigerjahren, und so hatten sich Hunderte von Journalisten akkreditieren lassen, einige von ihnen, lang bevor sie von den Protesten wussten. Die Studierenden ließen sich von Gorbatschow inspirieren und forderten ähnliche Reformen wie in der Sowjetunion. Plötzlich sahen sie sich umringt von Journalisten, die ihre Interviews in alle Welt ausstrahlten und China für eine kurze Zeit in das Zentrum der Weltöffentlichkeit rückten. Eine übermütige, ja geradezu karnevaleske Stimmung machte sich breit. Ministerien, Fabriken und Zeitungsredaktionen schickten Delegationen auf den Platz, um die hungerstreikenden Studierenden zu unterstützen.

Nervöse Führung in Peking

Die Pekinger Führung wurde nervös und spaltete sich über die Frage, wie man den Protesten begegnen sollte. Am 19. Mai traf der Generalsekretär der Partei, Zhao Ziyang, die Studierenden und bat sie eindringlich, den Platz zu räumen. Die Studenten blieben auf dem Platz, und bereits einen Tag später wurde das Kriegsrecht verhängt. Der Karneval drohte in eine Schlacht umzuschlagen: Hier die mit Panzern und Maschinengewehren ausgerüstete Armee, dort die hungerstreikenden Studenten. Hunderttausende gingen auf die Straßen und stellten sich der Armee entgegen. Die Armee schoss in die Menge. Der Platz leerte sich. Nur wenige verharrten, bis die Panzer kamen. Noch heute diskutieren die Studentenführer von damals, ob sie dem Rat Zhao Ziyangs nicht hätten folgen sollen.

Der Name Deng Xiaopings, der China in die Phase von Reform und Öffnung geführt und die Hoffnungen geweckt hat, die in der Nacht zum 4. Juni brutal zerschlagen wurden, ist seit damals befleckt. Die KPCh und die Sicherheitsorgane der VR China waren offensichtlich auf derartig massive Proteste nicht vorbereitet. Für sie gab es nur zwei Optionen: Zhao Ziyang stand für die Methode des Aushandelns, Deng Xiaoping für die der blutigen Zerschlagung. Angesichts der massiven internationalen Reaktion auf die Ereignisse setzte sich Deng mit dem Argument durch, das Ausland stünde hinter der Bewegung. Zhao Ziyang wurde seines Amtes enthoben und bis zu seinem Tod 2005 unter Hausarrest gestellt. Alle, die seinen Kurs unterstützt hatten, wurden aus der Partei gesäubert, viele inhaftiert, einige wenige durch das Wirken einer Hongkonger Organisation aus dem Land geschmuggelt.

Die meisten Studentenführer und Proponenten der Linie Zhao Ziyangs sind 30 Jahre später ausgeschaltet und gebrochen. Die blutige Niederschlagung der Proteste brachte den Wiederaufstieg Chinas nur kurz zum Stillstand. Allen Vorhersagen zum Trotz ist das Regime der KPCh nicht geschwächt, sondern gestärkt aus den Ereignissen hervorgegangen. Es hat mithilfe des ökonomischen Wachstums die Bevölkerung auf seine Seite gezogen und gelernt, wie man die Mittelklasse wachsen lässt, ohne ihre Proteste fürchten zu müssen. Die Zwiespältigkeit der Erinnerungen an das Jahr 1989 hat die Tendenz zur Entpolitisierung unter der Bevölkerung verstärkt. Jeder kämpfte von nun an einzeln für sein ganz persönliches Glück, und Zeichen des Glücks ist Reichtum. Aus dem Blickwinkel der siegreich aus der Auseinandersetzung hervorgegangenen Fraktion innerhalb der KPCh hat Deng alles richtig gemacht. Er hat verhindert, dass es zu einem Regimewechsel gekommen ist. Er hat China vor dem bewahrt, was wenig später zuerst in Osteuropa und dann in der Sowjetunion passiert ist.

Alle Mittel für den Machterhalt

Das Entsetzen darüber, dass die KPCh ihre Macht nur mithilfe einer auf die Protestierenden schießenden Armee erhalten konnte, wirkt aber bis heute nach. Seit jener Nacht wissen alle politisch denkenden Menschen in der VR China, dass die KPCh im Zweifel alle Mittel einsetzt, um die eigene Macht zu erhalten. Der Mythos von der KPCh, die China in eine lichte Zukunft führt und dabei sich selbst geradezu überflüssig macht, ist an der Realität zerschellt. Die Partei war und ist bereit, Chinas Wiedererstarkung ökonomisch herbeizuführen, allerdings nicht um den Preis der Aufgabe ihrer Monopolstellung im politischen System.

Die Mehrheit der Protestierenden von damals hat sich auf diesen Deal eingelassen. Sie haben sich mit dem Regime arrangiert. Die wenigen, die von ihren Zielen nicht ablassen wollten, warten im Exil immer noch auf den Tag, da das implizite Stillhalteabkommen zwischen KPCh und Mittelklasse auseinanderbricht.

Derweil sorgt die Partei dafür, dass die nachgeborenen Generationen nichts über die Ereignisse am 4. Juni1989 erfahren. Und angesichts des raschen Seitenwechsels der meisten Protestierenden von damals ist die Zahl jener, die das Schweigen durchbrechen, verschwindend gering. Nur in Hongkong werden beharrlich noch jedes Jahr am 4. Juni Kerzen angezündet.

Die Autorin

Susanne Weigelin-Schwiedrzik (*1955) gehört zu den führenden China-Experten der westlichen akademischen Welt. Von der Universität Heidelberg kommend, ist sie seit 2002 Universitätsprofessorin für Sinologie am Institut für Ostasienwissenschaften der Uni Wien. Von 2011 bis 2015 Vizerektorin für Forschung und Nachwuchsförderung. Derzeit Studienprogrammleiterin. Mehrere Forschungsaufenthalte in China.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2019)

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