WM-Land Südafrika: 18.148 Morde, 12.571 Totschläge

(c) AP (Schalk van Zuydam)
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Am 11. Juni wird die Fußball-WM angepfiffen. Für die Sicherheit der Fans werde gesorgt, behauptet die Fifa. Aber wer ans Kap der Guten Hoffnung reist, betritt ein äußerst gewalttätiges Land.

Johannesburg. Auch wenn es Fifa-Präsident Joseph S. Blatter ungern hört: Südafrika ist und bleibt ein Land, in dem ein Menschenleben wenig zählt. 18.148 Morde, 12.571 Totschläge und mindestens 15.000 Verkehrstote weisen die Statistiken für das vergangene Jahr aus. Im Schnitt kommen so fast 130 Menschen pro Tag auf gewaltsame Weise ums Leben. Zum Vergleich: In Spanien leben mit 47 Millionen etwa gleich viele Menschen. Das Land verzeichnete im Vorjahr 315 Morde und 1897 Verkehrstote.

Die südafrikanische Regierung kennt den miserablen Ruf ihres Landes beim Thema Sicherheit. Im Juni und Juli wird man daher ein solches Aufgebot an Sicherheitskräften mobilisieren, dass sich die mittlerweile abgebrühten Südafrikaner verwundert fragen werden, warum sie sich eigentlich nur dann sicher fühlen dürfen, wenn die Herren Messi, Rooney und Ronaldo zu Gast sind.

Unbewachte Grenzen

Wiederholt versicherten in den letzten Tagen Regierungssprecher, dass es während der WM keinerlei böse Überraschungen geben werde. Vielleicht etwas zu vollmundig. Wer sich an die Attacke auf die togolesische Nationalmannschaft im Januar in Angola erinnert oder den Anschlag auf die Kricket-Nationalmannschaft aus Sri Lanka in Pakistan im März 2009, weiß, dass die Gefahr eines Terrorangriffs immer besteht. Südafrikas Landesgrenze zu sechs Ländern erstreckt sich über 4800 Kilometer, dazu kommen noch 3000 Kilometer Küste. Weder zu Land noch zu Wasser können diese Grenzen adäquat bewacht werden.

Die Zäune zu Simbabwe und Lesotho sind zum Teil verschwunden. Erst in der vergangenen Woche stand die Verteidigungsministerin sprachlos vor einem riesigen Loch im Zaun zu Simbabwe, durch das kurz zuvor ein Lastwagen gefahren war.

Attentatsdrohung aus Algerien

Als Anfang März eine Bande von Bankräubern von der Polizei in Lesotho verfolgt wurde, konnten die Banditen ohne Weiteres über die Grenze nach Südafrika flüchten; dort kam es dann zu einer wilden Schießerei. Vor diesem Hintergrund muss selbst die Androhung einer angeblichen al-Qaida-Gruppe in Algerien ernst genommen werden, die angekündigt hat, die Begegnung England gegen USA am 12. Juni abends in der Stadt Rustenburg spektakulär zu bombardieren.

Kapitän Thomas Burchert, der stellvertretende Verteidigungsattaché an der deutschen Botschaft, war in den vergangenen Monaten wiederholt bei Militärübungen zur See, in der Luft und auf dem Land als Beobachter zu Gast. Er zollt den Streitkräften großes Lob: „Ich denke, die Vorbereitungen hier sind vergleichbar mit dem, was wir 2006 in Deutschland gemacht haben. Die Südafrikaner sind in allen Bereichen gut aufgestellt, ich kann da keine Lücken erkennen. Die werden alles mobilisieren, was sie haben.“

Siboyanga Cele, der Minister für den Geheimdienst, erklärte in dieser Woche, man habe die Situation unter Kontrolle; tagtäglich werde neu geprüft, ob die Straßen, auf denen die Fußballteams fahren, ihre Trainingslager und Hotels sicher seien. Nathi Mthethwa, sein Kollege von der Polizei, ließ sogar hunderte Beamte demonstrativ durch Kapstadt marschieren, fahren, reiten und sich aus Hubschraubern abseilen.

Und auch in dieser Woche – so ein Zufall – konnte der Polizeichef mit einer weiteren beruhigenden Nachricht aufwarten: Man habe fünf weiße Rechtsextremisten dingfest gemacht, die geplant hätten, während der WM selbst gebastelte Bomben in Schwarzen-Slums zu zünden, angeblich aus Rache für den Mord am Rassistenführer Eugene Terre'Blanche, der am 3.April von zwei schwarzen Arbeitern erschlagen worden war. Während man solche Ermittlungserfolge belächeln darf, sind die Planungen und Anstrengungen, die Straßen Südafrikas während der WM sicherer als während der letzten 20 Jahre zu machen, durchaus beachtlich. In den neun Austragungsstädten wird es vor uniformierten Sicherheitskräften förmlich wimmeln.

„Uns wurde mitgeteilt, dass über 100.000 Mann im Einsatz sein werden“, staunt einer der besten Ermittler in Kapstadt, der anonym bleiben muss, weil er sich bisher stets sehr kritisch geäußert hat. „Seit Monaten geht es bei unseren Sicherheitsvorbereitungen nur noch um Fußball. Wir haben endlich das Gerät bekommen, das wir lange vergeblich angefordert haben – neue Software für landesweit vernetzte Computer, Profilerkennung, Kameras, gute Einsatzwagen, sogar neue Hubschrauber. Die haben endlich kapiert, wie wichtig es ist, der Welt zu beweisen, dass wir so ein Turnier ohne Zwischenfälle veranstalten können“, sagt der Polizeioberst.

Er sehe, alles in allem, jetzt erstmals seit Jahren wieder optimistischer in die Zukunft, denn „all das steht uns ja weiterhin zur Verfügung, wenn die WM längst vergessen ist“. Wenn sein Boss, der selbstverliebte Polizeipräsident Cele, großspurig behaupte, man werde den „Lebensraum für Kriminelle auf null quetschen“, dann könnte es sich endlich einmal nicht um Prahlerei handeln.

Das wird auch nötig sein. Die meisten Südafrikaner sind inzwischen so hartgesotten, dass sie selbst von den schrecklichsten Verbrechen oder auch Verkehrsunfällen nur kurz aufgeschreckt werden. So überschlug sich am Mittwoch dieser Woche ein völlig verkehrsuntauglicher Reisebus vier Mal. 23 Menschen starben. Die Bevölkerung nimmt von solchen Meldungen kaum noch Notiz. Dabei könnte es einem schlecht werden, wenn man sich nur einige der Ereignisse der letzten Wochen vor Augen hält.

Gewalt gehört zum Alltag

In der Provinz Freistaat ringt ein dreijähriges Mädchen in dem Universitätskrankenhaus von Bloemfontein mit dem Tod. Das Kind wurde von einem 27 Jahre alten Mann – einem Freund ihrer Tante – am 26. April derart brutal vergewaltigt, dass es Gehirnblutungen erlitt. Ebenfalls im Freistaat, in der Stadt Wepener, wurde am vergangenen Montagabend der Bürgermeister in seiner Hauseinfahrt erschossen. Am selben Tag wurde eine Großmutter zusammen mit ihrer Tochter vor den Augen ihrer beiden Enkelkinder in der Provinz Kwazulu-Natal erschossen. Das Mordmotiv ist unbekannt. Freitag vor einer Woche wurde in Kapstadt ein Student in seinem Haus erstochen, der zweite Mord im Vorort Woodstock innerhalb von 72 Stunden und bereits der fünfte Mord an einem Angehörigen der Universität Kapstadt seit 2006. Zwei Tage zuvor war eine 31-jährige Frau auf dem Weg zur Arbeit in einem Nahverkehrszug in Stellenbosch erstochen worden. Am 26. April wurden in der Provinz Mpumalanga drei Streifenpolizisten auf offener Straße von Kugeln durchsiebt, die morgens um eins einen verdächtigen Wagen angehalten hatten. Die Tatwaffen: automatische Sturmgewehre der Armee. Am 28. April wurde ein 41 Jahre alter Mann vor den Augen seines zweijährigen Sohnes in der Nähe von Pretoria erstochen. Die Polizei sucht einen Mann, der bereits vor zwei Wochen vergeblich versucht hatte, in das Haus einzubrechen.

Ein Mann in Worchester, Provinz Westkap, erschlägt einen Freund im Suff. Ein Fünfjähriger stirbt, weil sein Zwölfjähriger Freund eine Waffe gefunden hat und sich versehentlich ein Schuss löst. Das ist Südafrika im Herbst 2010. Würde man jeder Bluttat von diesem Wochenende nur fünf Zeilen widmen, sagt ein Zeitungsredakteur in Kapstadt, „dann wären das allein jeden Montag vier Seiten.“ Das will aber verständlicherweise niemand lesen, schon gar nicht Joseph S. Blatter.

Zur Sicherheit lässt er Zeitungen in den Stadien verbieten; wegen der unerlaubten Reklame.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2010)

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