Die Angst vor dem vollkommenen Menschen

Moderne genetische Methoden machen Eingriffe möglich, die – je nach Blickwinkel – Utopien oder Dystopien hervorrufen können. Welche Befürchtungen lösen sie aus, und wie kann man sie bezwingen?
Moderne genetische Methoden machen Eingriffe möglich, die – je nach Blickwinkel – Utopien oder Dystopien hervorrufen können. Welche Befürchtungen lösen sie aus, und wie kann man sie bezwingen?(c) REUTERS (Michael Dalder)
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Ist die Vision eines biologisch vollkommenen Menschen ein erstrebenswertes Ziel? Und wie umgehen mit der Angst vor dem rasanten technologischen Fortschritt? Das diskutierten Wissenschaftler bei einem Symposium in Wien.

Hat sich in den Geisteswissenschaften das Ideal des lebenslangen Lernens etabliert – des ewigen Provisoriums einer nie endenden Bildungsreise –, so irrlichtert durch die Naturwissenschaft die gegensätzliche Vision eines perfekten menschlichen Wesens, wie es durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms möglich geworden zu sein scheint. Über die Befürchtungen, die derlei Utopien oder Dystopien – je nach Blickwinkel – auslösen, und über das Bezwingen solcher Ängste diskutierten kürzlich an der Medizinischen Universität Wien drei Experten, die an unterschiedlichen Schnittstellen von Gesellschafts- und Naturwissenschaft arbeiten: der Medizingenetiker Markus Hengstschläger, die Sozialwissenschaftlerin Claudia Schnugg sowie der Medienwissenschaftler Jan Claas van Treeck von der Humboldt-Universität zu Berlin. Den Rahmen des von Siegfried Meryn moderierten Gesprächs unter dem Titel „The ethical aspect of homo imperfectus“ bildete der Kongress Darwin's Circle Health, der das Zusammenspiel von Technologie und Medizin zum Thema machte.

Ohnmacht und Technikangst

Als Katalysator der Debatte um Segen und Fluch der Vollkommenheit brachte der Moderator das aktuell brisanteste Beispiel medizinethischen Handelns aufs Tapet: die vor einem halben Jahr in China zur Welt gebrachten Zwillingsmädchen, deren Erbgut durch den Alleingang eines Biophysikers mit der Genschere CRISPR/Cas9 verändert worden war.

Ein derartiges Vorgehen sei eindeutig abzulehnen, bei aller Sinnhaftigkeit der Genschere für bestimmte medizinische Zwecke, sagte Hengstschläger. „Wenn wir wie in China das Genom eines gesamten menschlichen Wesens verändern, dann müssen wir uns bewusst sein, dass sich diese Modulation auch auf die nächste, die übernächste und alle Folgegenerationen überträgt – dann verändern wir dadurch die Welt und die gesamte Menschheit.“ Es gehe darum, in diesen Fragen ein weltweites gemeinsames Verständnis herzustellen, das nicht nur Europa und den Westen, sondern auch etwa China und den Rest der Welt umfasse, ergänzte van Treeck.

Doch wie steht es abseits solcher Sensationen um jene technologischen Veränderungen, die Tag für Tag das Leben der Menschen verändern und manchmal das Gefühl der Ohnmacht auslösen? Claas van Treeck zieht den Vergleich zu der Angst von Menschen im aufkommenden Eisenbahnzeitalter. „Es gab Warnungen, dass der Mensch die angeblich so wahnsinnigen Geschwindigkeiten von mehr als 50 km/h biologisch nicht aushalten könnte.“ Ein anderes Beispiel für die strukturelle Beständigkeit von Technikangst sind für den Medienwissenschaftler die späten Vorträge des „Technophobikers“ Martin Heidegger. Ersetze man darin jedes Mal das Wort „Atombombe“ durch „Digitalisierung“, habe man das Gefühl, man wäre in der heutigen Debatte um die angeblichen Gefahren der Digitalisierung, sagt van Treeck.

Bessere Kommunikation

Als Gegenmittel sieht der Wissenschaftler die Änderung pädagogischer Programme. „Es wird wahrscheinlich keine andere Chance geben als endlich technische Erziehung bereits sehr früh in Lehrpläne aufzunehmen. Wenn das Schreiben mit der Hand die Kulturtechnik ist, die die bisherigen Jahrhunderte bestimmt hat, dann ist die Digitaltechnik, was uns jetzt bestimmt und bestimmen wird.“

Markus Hengstschläger, der neben seiner wissenschaftlichen und ärztlichen Tätigkeit auch als Redner und Medienansprechpartner sehr gefragt ist (etwa als Moderator der Ö1-Sendung „Radiodoktor“), plädiert für mehr und bessere Kommunikation. Zum einen müssten Wissenschaftler trainiert werden, um mit Medien kommunizieren zu können, zum anderen müsse auch sichergestellt werden, dass Medien ausreichend über Wissenschaft berichteten. Für die Sozialwissenschaftlerin Claudia Schnugg ist ein neuer, vielversprechender Weg, Kunst und Wissenschaft zusammenzubringen, etwa in Form von Residenzprogrammen, bei denen Künstler und Wissenschaftler dieselben Ziele verfolgen. Als Beispiele nennt Schnugg bereits durchgeführte Projekte zu Fragen wie „Welchen Einfluss hat Lärm im Meer auf Plankton?“, „Wie bekämpfen wir antibiotische Resistenz von Bakterien?“ oder „Welchen Beitrag können neue Technologien in der Gesellschaft leisten?“. Diese und andere Thematiken seien an Instituten der Science Gallery bereits von Künstlern und Wissenschaftlern im Zusammenwirken bearbeitet worden, sagt Schnugg, die bis vor Kurzem Creative Director der Science Gallery Venice war.

Neue gemeinsame Sprache

Die Mission dieser jungen Institution sei, „junge Erwachsene durch Kunst mit wissenschaftlichen Themen zu erreichen und zu inspirieren, selbst aktiv zu werden, selbst kreativ zu sein und selbst zu forschen“. Während der Ausstellungen dort, die je nach Thema durch einen Open Call zusammengestellt werden, gibt es Workshops und Veranstaltungen. „Es soll eine neue Art der Auseinandersetzung mit Wissenschaft durch diesen aktiven Umgang erzielt werden, eine neue gemeinsame Sprache gefunden und Kollaboration forciert werden, anstatt durch Papers und andere Artikel traditionelle Wissenschaftskommunikation zu betreiben.“

LEXIKON

Science Gallery ist ein internationales Netzwerk, das 2008 im Gebäude des Naughton Institute am Trinity College in Dublin gegründet wurde und eine neue Art der Auseinandersetzung mit Wissenschaft postuliert. Science Galleries haben keine permanente Kollektion, sondern eine Reihe von drei bis vier Ausstellungen pro Jahr. Dabei wird auf die besondere Fähigkeit der Kunst gesetzt, Inhalte erfahrbar zu machen, unterschiedliche Sinne anzusprechen und Gedankenexperimente zu erlauben. Das Netzwerk ist in einer Art Franchise-System organisiert – derzeit mit Standorten in Dublin, London, Bengaluru, Melbourne, Detroit, Rotterdam und Venedig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2019)

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