Wie das System Orbán Ungarn seine Zukunft raubt

16. Juni 1989: Viktor Orbán rechnet auf dem Budapester Heldenplatz mit den kommunistischen Machthabern ab.
16. Juni 1989: Viktor Orbán rechnet auf dem Budapester Heldenplatz mit den kommunistischen Machthabern ab. (c) AP (Istvan Csaba Toth)
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Vor 30 Jahren sorgte ein junger Mann in Budapest mit einer aufwühlenden Rede für Furore. Das tut er immer noch – leider.

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Vor dreißig Jahren, am 16. Juni 1989, hielt ein junger Mann auf dem Budapester Heldenplatz vor 300.000 Menschen eine aufwühlende historische Rede über die Revolution 1956, gegen die sowjetische Besatzung und die herrschende KP. Er sprach auch über die Verlogenheit der Reformkommunisten, über die wegen der Kádár-Diktatur unwiederbringlich verlorenen Jahre seiner Generation.

Während seine Vorredner am Tag der Wiederbestattung des 1958 hingerichteten Ministerpräsidenten der Revolution, Imre Nagy, versöhnliche Töne angeschlagen, auf eine rechtskonforme Überwindung der Diktatur gemeinsam mit den reformwilligen Kommunisten gesetzt hatten, bestand Viktor Orbán auf einen Bruch. Er rechnete mit der Vergangenheit ab, forderte Verantwortlichkeit, Gerechtigkeit und Rechenschaft. Wegen ihrer Radikalität war diese Rede sofort umstritten: Heftig kritisierten sie damals vor allem die Revolutionäre von 1956, die unter dem Regime am meisten zu leiden gehabt hatten und die jetzt auf Verständigung und nationalen Konsens setzten.

Eine Hoffnung namens Orbán

Auch ich stand damals dort, als in Wien geborener Nachfahre von 1956er-Flüchtlingen. Die Behörden der Volksrepublik Ungarn hatten mir eine einmalige Einreisegenehmigung erteilt, da ich – als Aktivist des Sozialistischen Osteuropakomitees zur Unterstützung der demokratischen Opposition und Mitherausgeber der Zeitschrift „Gegenstimmen“ – in Ungarn seit 1980 Persona non grata war: Als die Diktatur symbolisch zu Grabe getragen wurde, wollte ich unbedingt dabei sein.

Zuletzt leisteten die Anwesenden ein Gelöbnis, die Demokratie in Ungarn fortan zu schützen. Ich tat mit, auch wenn ich das übertrieben pathetisch fand: Orbáns Rede hatte mich beeindruckt, bestand doch mit ihm Hoffnung, dass sich Ungarn aus seinen vielen faulen historischen Kompromissen mit antidemokratischen oder verbrecherischen linken wie rechten Vergangenheiten endlich befreien könnte, eine Jahrhundertchance.

Aber war nicht schon damals in der Radikalität, Vehemenz und Kompromisslosigkeit von Orbáns Auftreten alles vorweggenommen, was Ungarns Demokraten unter seinen Ministerpräsidentschaften später erleiden mussten und noch immer müssen? Hätte man das nicht schon damals erkennen können?

Sozialwissenschaftler und Publizisten diskutieren, wie und warum sich dieser ambitionierte, gebildete und kämpferische junge Mann zu einem machtbesessenen, geldgierigen, rachsüchtigen, egomanischen und bösartigen Autokraten wandelte – oder ob es einer solchen Wandlung gar nicht bedurfte, weil schon damals in ihm ein destruktiver Provokateur steckte, ein Troll, der sich in der ununterbrochenen Herausforderung, im ständigen Unruhestiften wohlfühlt wie ein Pubertierender.

Man kann sich inzwischen des Eindrucks nicht mehr erwehren, dass Orbán ein gewaltiges Milgram-Experiment mit seinen Landsleuten (und der Europäischen Union) inszeniert: Wie lang kann man eine Gesellschaft reizen und demütigen? Wie lang spielt sie das grausame Spiel der Erniedrigung und Entrechtung mit?

Dank Stipendien des in den Staatsmedien heute förmlich gejagten György Soros konnte Orbán noch in kommunistischen Zeiten im Ausland studieren, konnte in Seminaren mit Oppositionellen die historischen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen Ungarns, die daraus folgenden deformierten Mentalitätsprägungen der ungarischen Gesellschaft erfassen.

Im Würgegriff der Oligarchie

Aber er nutzte diese Einsichten nicht dazu, zumindest zu versuchen, Ungarn aus diesen sozialen und politischen Sackgassen und ausweglosen Situationen herauszuführen, das Land fest im demokratischen Westen zu verankern.

Er missbrauchte vielmehr sein Wissen um die tief verwurzelten, westlich der österreichisch-ungarischen Grenze schwer nachvollziehbaren Denk- und Handlungsweisen seiner Mitbürger und deren fulminantes Vertrauen dazu, das Land in seine autokratische, feudal geprägte und obrigkeitshörige Vergangenheit zurückzustoßen, die groß- und einzigartigen Möglichkeiten von 1989/90 zu hintertreiben.

Mit dem einzigen Unterschied, dass jene Gruppe, die das Land jetzt in ihrem ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Würgegriff hält, nicht mehr die Aristokratie oder die Gentry ist, sondern eine neue, zum Teil schon zu Kádárs Zeiten entstandene Oligarchie, allein mit derselben Attitüde und sozialen Gefühlskälte wie die herrschende Klasse im Horthy-System. Das System Orbáns und seines Jubelchors Fidesz funktioniert. Denn auch das werden wohl Sozialwissenschaftler – sofern sie nicht vertrieben wurden – einmal zu klären haben.

Allumfassende Korruption

Sie haben zu klären, warum eine fanatisch gläubige Entourage in Millionenzahl diesen Amoklauf noch immer mitmacht; warum ein Land kaum aufbegehrt, in dem Gesundheitssystem, Schulwesen, öffentliche Dienstleistungen ein Hohn sind; in dem ein Wahlsystem herrscht, das der Opposition keine Chance lässt, inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen emigriert sind, eine Universität mit Schimpf und Schande verjagt, gegen missliebige Intellektuelle ein Kesseltreiben veranstaltet wird.

Warum ein Land kaum aufbegehrt, in dem die Medien zu Gehirnwäschern verkommen, die Geschichte immer wieder umgeschrieben wird, Denkmäler über Nacht errichtet oder demontiert werden und wo Flüchtlingen keine Unterstützung gewährt und gegen Asylanten systematisch eine Pogromstimmung erzeugt wird.

Um die allumfassende Korruption aufzudecken, zu recherchieren, wie alles, was nicht niet- und nagelfest ist, schamlos gestohlen wird, bedarf es nicht einmal mehr eines investigativen Journalismus: Es genügt, einen Blick in das Amtsblatt zu werfen, um festzustellen, wie sich Orbáns Clique die von der EU mitfinanzierten öffentlichen Aufträge zuschanzt.

Die EU hat kein Rezept

Die Vernichtung der an sich schon schwachen Zivilgesellschaft, die Gleichschaltung akademischer Institutionen und staatlicher Medien geht einzig und allein auf Orbáns Konto und das seiner Speichellecker. Dass die EU kein Rezept gegen diesen Kahlschlag gefunden hat, ist Teil dieser Tragödie, wenn auch ein zentraler: Auch die politische Elite in Brüssel ist (mit-)verantwortlich für die Zerstörung der ungarischen Demokratie.

Orbán hatte recht, als er am 16. Juni 1989 das Kádár-Regime beschuldigte, seiner Generation die Jugend gestohlen zu haben. Aber der von ihm mitinitiierte demokratische Übergang eröffnete auch viele Möglichkeiten für Ungarn: Chancen, die allesamt verspielt wurden, unter anderem auch wegen seiner Politik. Es ist Orbáns politisches System, das nun nicht nur einer Generation, sondern einem ganzen Land die Zukunft raubt. Die Misere der ungarischen Geschichte geht weiter: dreißig vertane Jahre.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Der Autor

Béla Rásky, Sohn von Ungarn-Flüchtlingen 1956, wurde in Wien geboren und ist ausgebildeter Historiker und Verfasser mehrerer Bücher zu zeithistorischen Themen. Er war ab 1997 Direktor des 2003 aufgelassenen Austrian Science and Research Liaison Office in Budapest. Seit 2010 leitet er das Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2019)

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