Harari: „Es war das Jahrzehnt der Ernüchterung“

Wir trafen den israelischen Historiker Yuval Harari in einer Suite im Hotel Sacher in Wien zum Gespräch.
Wir trafen den israelischen Historiker Yuval Harari in einer Suite im Hotel Sacher in Wien zum Gespräch.(c) Michele Pauty (Michele Pauty)
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Der israelische Historiker Yuval Harari blickt zurück auf das vergangene Jahrzehnt und voraus in die Zukunft der EU. Obwohl er die Jahre seit 2009 als „Dekade der Desillusion“ bezeichnet, waren sie für ihn persönlich ein großer Erfolg. Ein Gespräch in Wien, wo er auf Einladung der Wirtschaftskammer zu Gast war.

Sie sind eigentlich Historiker. Wann und wieso haben Sie begonnen, auch in die Zukunft zu schauen?

Yuval Harari: Nachdem mein erstes Buch, „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, erschienen war, musste ich plötzlich auch ganz viele Fragen über die Zukunft beantworten. Menschen wollten wissen, was ich glaube, wie es weitergehen wird. Prinzipiell studiert man die Vergangenheit nicht um der Vergangenheit willen. Sie ist vorbei, alle Menschen sind tot, aber es bleibt die Frage, was wir daraus lernen können. Die meisten Menschen finden Geschichte langweilig und irrelevant, weil ihnen in der Schule oder in der Familie niemand erklärt hat, dass sie mit der Gegenwart zu tun hat. Wenn sie diesen Konnex herstellen, realisieren die Menschen den Einfluss der Geschichte. Es geht um Geschlechterverhältnisse, Sexualität, Familienstruktur. Die Art, wie wir heute romantische Beziehungen betrachten und empfinden, ist das Produkt von Handlungen und Gedanken vieler Menschen in der Vergangenheit. Wenn man das einmal verstanden hat, ist Geschichte interessant.

Lassen Sie uns trotzdem zuerst zurückblicken auf das vergangene Jahrzehnt, an dessen Beginn, 2009, diese Zeitung erstmals erschienen ist. Wie würden Sie die jüngste Dekade beschreiben?

Als Jahrzehnt der Ernüchterung. In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren gab es diesen sehr starken Glauben an eine liberale Demokratie und den Kapitalismus. Man dachte, man kenne jetzt die Formel für gelingende Gesellschaften, und dieses Modell wird sich allmählich über die ganze Welt ausbreiten. Dann kam die Wirtschaftskrise von 2008, und ein wachsendes Gefühl von Unbehagen und echter Ernüchterung stellte sich ein, auch im Westen. In den USA, in Großbritannien, in Deutschland verlieren die Menschen den Glauben an dieses siegreiche Paket aus Liberalismus, Demokratie, Kapitalismus. Das Schlüsseljahr war 2016 mit Brexit und Donald Trump. Als die beiden Länder, die seit Jahrhunderten die Verbreitung der liberalen Demokratie und des Kapitalismus vorangetrieben hatten, plötzlich sagten: Wir glauben nicht mehr daran. Noch extremer ist die Art der USA, die sich von ihrer Rolle als Führer der freien Welt zurückgezogen hat. Wer hätte gedacht, dass die Menschen jemandem folgen, dessen Motto „Me first“ ist. Nun hat die Welt keinen Führer, und das wirkt wie ein Domino-Effekt auf viele andere Demokratien – wenn die Amerikaner den Glauben an diesen Traum von einer liberalen Demokratie verloren haben, wer sind wir dann, diesen Traum fortzusetzen?


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