Serie „Chernobyl“: Der Atom-Thriller zieht Kreise

Ein Test fehlte dem Atomkraftwerk noch. Er wurde beschleunigt, unter Druck und nachts durchgeführt. Das bekannte Ergebnis war die Atomkatastrophe.
Ein Test fehlte dem Atomkraftwerk noch. Er wurde beschleunigt, unter Druck und nachts durchgeführt. Das bekannte Ergebnis war die Atomkatastrophe.(c) Imago
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Die Serie über die Nuklearkatastrophe 1986 hat voll eingeschlagen. Sie wurde unerwartet zum Welterfolg, hat Russland erzürnt und den Tourismus in die Sperrgebiete angekurbelt.

Wie war das damals, als alles schief gelaufen ist im Reaktor Nummer 4? Die Serie „Chernobyl erzählt davon, sehr detailliert, in starken Bildern, zum nervösen Knarzen des Geigerzählers. Damit, dass die Reaktorkatastrophe in der Sowjetukraine ein Serienhit wird, war kaum zu rechnen. Denn über weite Strecken sieht man vermummte oder dreckige Männer gegen eine unsichtbare Gefahr kämpfen. Dazwischen Wissenschaftler, die herauszufinden versuchen, was passiert ist – und dagegen kämpfen, dass sich der Unfall noch weiter ausdehnt. Das ist schwer darzustellen, die HBO-Serie hat es aber geschafft. Und wird dafür gefeiert.

Aktuell wird die HBO-Produktion als beste Serie auf der Filmdatenbank IMDb geführt. Mit einem Rating von 9,6 hat sie „Game of Thrones“ vom Thron gestoßen. Sie liegt auf Platz eins, vor „Black Mirror“, „Breaking Bad“ oder „Sherlock“. Nicht nur deshalb kam sie aber in die Schlagzeilen - sondern auch wegen einer Tourismuswelle, die sie auslöste. Viele Fans der Serie wollen offenbar nun, wo sie die detailreichen, düsteren Bilder in und um den Reaktor gesehen haben, auch das Original kennenlernen. Und strömen in die Ukraine, um Katastrophentourismus zu betreiben. Laut „Guardian" wurden im Frühsommer 40 Prozent mehr Führungen gebucht, bei denen man den Ort der Katastrophe besichtigen kann.

Doch die Serie zieht ihre Kreise weiter: Es gibt politische Implikationen. Zwar bekommt sie von russischen Zuschauern durchaus auch Applaus (übrigens auch von der weißrussischen Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die Hunderte Überlebende des Tschernobyl-Unglücks interviewte), aber nicht vom offiziellen Russland.

Eine russische Version wird kommen

Die Staatspropaganda scheint prinzipiell zu stören, dass die Reaktorkatastrophe im Ausland thematisiert wird. In Russland herrscht ein „zunehmend triumphales Geschichtsbild“, schreibt die „Welt“. Die komplexe russische Historie gerate zu einer Aneinanderreihung von Siegen. Über weniger rühmliche Kapitel werde so selten wie möglich geredet, die Katastrophe sei inzwischen völlig aus dem Bewusstsein der Russen verschwunden. Nun ist sie wieder da, geweckt durch eine Serie, die bald auch in der Ukraine zu sehen sein soll, bei 1+1, einem der größten Sender des Landes.

An der Gegendarstellung wird schon gearbeitet. Der TV-Sender NTW, der zur Medienholding des Energiekonzerns Gazprom gehört, bereitet eine eigene, patriotischere filmische Version vor. Vor allem die Akteure im Kraftwerk (teils wenig kompetent oder eingeschüchtert bzw. auf Karriere bedacht) sind Stein des Anstoßes. Den Berichten zufolge sollen die historischen Ereignisse etwas angepasst werden: Ein Agent des US-Geheimdienstes CIA, der am Tag der Katastrophe anwesend war, wird sich im Remake finden. Die BBC zitiert den Regisseur Aleksey Muradov. Demnach gebe es eine „Theorie", dass „die Amerikaner das Kernkraftwerk in Tschernobyl infiltriert hatten". Und: „Viele Historiker schließen die Möglichkeit nicht aus, dass am Tag der Katastrophe ein ausländischer Agent auf der Anlage gearbeitet hat", so der Regisseur weiter. 

Keine Hollywood-Klischees 

Im Westen ist davon nichts bekannt. Und als Seher hat man das Gefühl, dass die Ereignisse jedenfalls ausgewogen (weil menschlich) geschildert werden. Es ist keine Heldengeschichte, die da erzählt wird, auch wenn es (Todes-)Mut, Mitgefühl und Menschlichkeit gibt. Viele der Männer wussten wohl nicht, worauf sie sich einließen, als sie für die Arbeiten herangezogen wurden, die verhindern sollten, dass sich die Katastrophe noch weiter ausbreitet.

Auch so war der Ausgang erschütternd: 300.000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Geschätzte 4000 bis 90.000 Menschen (je nachdem, ob man Spätfolgen mitrechnet) starben an der Verstrahlung. Es hätte aber noch weit schlimmer kommen können. Auch davon erzählt der Atom-Thriller: eindrucksvoll und erschütternd. In den fünf Teilen erfährt man vom menschlichen und politischen Versagen und einer Führungselite, die auf die eigene Karriere oder den Ruf der UdSSR schaute statt auf das Wohl der Bevölkerung.

Übrigens sehen manche in Russland auch wirtschaftliche Faktoren als Grund dafür, warum die HBO-Serie überhaupt gemacht wurde: Die Zeitung "Komsomolskaja Prawda" vermutet, dass Konkurrenten des russischen Atomenergie-Konzerns Rosatom hinter der Idee stehen. Das Unternehmen gilt als Weltmarktführer bei Exporten von Nukleartechnik. Das wollen die angelsächsischen Konkurrenten von Rosatom natürlich nicht dulden, heißt es. Ein Thriller nach dem Thriller: Vielleicht gibt es ja auch dazu einmal eine Serie.

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