Die Besetzung der Führungsrollen gibt einen Ausblick darauf, wie die EU mit Klimawandel, Autoritarismus und Digitalrevolution umgeht.
Brüssel. Manfred Weber? Frans Timmermans? Margrethe Vestager? Oder jemand ganz anderer? Zum zweiten Mal seit der Europawahl vor drei Wochen trafen sich am Donnerstag die Staats- und Regierungschefs, um zu verhandeln, wer Jean-Claude Juncker an der Spitze der Europäischen Kommission folgen soll. Schon vorab war klar, dass dies nicht einfach würde. „Letzte Runde der Beratungen vor Beginn“, teilte Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rats, via Twitter mit. „Gestern war ich vorsichtig optimistisch. Heute bin ich eher vorsichtig als optimistisch.“
Allerlei Namen schwirren seit Wochen durch die Medien; jede der drei größten Parteifamilien versucht ihren eigenen politischen Spin. Am Donnerstag lancierte beispielsweise die Europäische Volkspartei (EVP) ihren kroatischen Regierungschef Andrej Plenković als Kommissionspräsidenten.
Sondergipfeltreffen am 1. Juli
Doch wäre Plenković geeignet? Er ist dafür verantwortlich, dass Kroatien sein vor EU-Beitritt gegebenes Versprechen, den Streit mit Slowenien um die Bucht von Piran durch ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen, gebrochen hat. Und geht es den Deutschen in der EVP nicht eher darum, mit dem Gerücht über Plenković die Aussichten des Franzosen Michel Barnier, seines Zeichens EU-Brexit-Verhandler, im Keim zu ersticken? Barnier ist auch ein EVP-Mann. Doch in der CDU und CSU nimmt man es ihm enorm übel, eine nicht sehr diskrete Kampagne um das Kommissionsamt zu führen. Das sei eine Illoyalität gegenüber Weber, dem offiziellen EVP-Spitzenkandidaten.
Man sieht: Mit solchen Gedankenspielchen kann man sich schier in den Wahnsinn treiben. Die Staats- und Regierungschefs jedoch müssen eine Entscheidung treffen, welche eine Balance zwischen Norden und Süden, Osten und Westen, den Geschlechtern und Parteien schafft. „Es kann sein, dass wir heute noch keine Lösung finden“, sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. „Ich bin dagegen, dass der Rat einen Vorschlag macht, der vom Parlament nicht unterstützt wird.“ Schon ist davon die Rede, dass ein weiterer Gipfel am 1. Juli die Entscheidung bringen solle: einen Tag vor der Antrittssitzung des neu gewählten Parlaments in Straßburg.
Bei der Frage, ob die Kommission vom Christlichsozialen Weber, dem Sozialdemokraten Timmermans, der Liberalen Vestager oder jemand anderem geführt werden soll, geht es jedoch auch darum, wie die Union in den kommenden fünf Jahren ihre existenziellen politischen Herausforderungen anpackt: Klimawandel, Bedrohung der Demokratie durch neuen Autoritarismus in mehreren Mitgliedstaaten, die Verwerfungen, welche die digitale Revolution mit sich bringt – und das alles vor dem Hintergrund des Brexit, der dazu führen wird, dass das EU-Budget um gut ein Zehntel weniger Einnahmen haben wird. Der Deutsche Weber täte sich vermutlich schwer, gegenüber den autoritär gesinnten Regierungen in Mittel- und Osteuropa Kante zu zeigen, zumal seine EVP in Westeuropa stark geschwächt ist. Der Niederländer Timmermans hingegen ist genau deshalb, weil er seit Jahren als Vizechef der Kommission gegenüber den Regierungen Ungarns, Polens und Rumäniens hart auftritt, für diese inakzeptabel. Die Dänin Vestager wiederum hat auf ihrem Schreibtisch nicht nur die bereits berühmten, selbst gehäkelten Elefanten stehen, sondern auch Shoshana Zuboffs Bestseller „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“. Unter den genannten Kandidaten sind von ihr die fundiertesten Aussagen zu den darin beschriebenen digitalen Herausforderungen zu hören. Doch wie würde sie den Rechtsstaat in den postkommunistischen EU-Staaten zu retten versuchen – oder im Gründungsmitglied Italien? Diesbezüglich hat man von ihr bisher ähnlich wenig gehört wie von Weber in der Frage, wie er gegen den Widerstand der deutschen Autohersteller und der Agrarindustrie das erklärte Ziel der EU zu erreichen gedenkt, bis 2050 netto keine Treibhausgase mehr ausstoßen zu wollen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2019)