Marokko: Weltmusik, Wind und Wellen

Blick auf Essaouira
Blick auf Essaouira (c) Getty Images/iStockphoto (AlxeyPnferov)
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Die Hafenstadt Essaouira steht im Schatten von Marrakesch. Zu Unrecht: Die „weiße Stadt" atmet europäisch-orientalische Geschichte, ist jedes Jahr Zentrum eines afrikanisch-arabischen Musikfestivals und Hotspot für Wellenreiter.

Sie beobachten uns. Vom Geländer der Dachterrasse, auf der wir das Frühstück einnehmen, starren mehrere gelb-schwarze Augenpaare auf uns und verfolgen stoisch jede Bewegung. Wenn etwas auf den Boden fällt, sind sie schon da und streiten schrill krächzend um die Beute. „Vorsicht. Butter ist ihre Lieblingsspeise, die holen sie sich gerne", warnt lachend der Kellner.

Frühstück über den Dächern von Essaouira: Das Meer ist nahe, daher kreisen über der Stadt zahlreiche Möwen, immer auf der Suche nach Futter. Von der Terrasse mitten in der Altstadt bekommt man aber auch einen ersten guten Einblick in das Leben der Hafenstadt: Im Pausenhof der gleich nebenan liegenden Schule lachen und streiten Kinder, in den schmalen Gassen unter uns machen die ersten Händler ihre Geschäfte auf. Auf einer anderen Terrasse machen gelenkige Touristen Yogaübungen. Und im Hintergrund ist der Atlantik zu sehen, dessen Wellen an die Stadt heranschlagen.

Die Villa Garance, die Unterkunft, ist ein Riad, also eines jener traditionellen marokkanischen Häuser, die einen Innengarten oder einen orientalisch dekorierten Innenhof haben. Sie sind authentischer als klassische Hotels und bei Marokko-Reisenden deshalb zunehmend nachgefragt. In den vergangenen Jahren wurden in Marokko viele Riads für die touristische Nutzung adaptiert und deren Dächer ausgebaut. Besonders viele in der Altstadt, der Medina, von Essaouira. Diese ist eine eigene Welt, umgeben von dicken Stadtmauern. Der besondere Reiz ist, dass Autoverkehr in der Altstadt nicht erlaubt ist. Das Auto muss der Besucher daher vor den Stadttoren stehen lassen, das Gepäck wird per Handkarren zur Unterkunft transportiert – auch Taxis dürfen in den Gassen nicht fahren.

Bei marokkanischen Fliesen zählt die Liebe zum Detail
Bei marokkanischen Fliesen zählt die Liebe zum Detail(c) Getty Images/iStockphoto (AlxeyPnferov)

Nicht ganz so touristisch

Knapp 100.000 Einwohner hat die Stadt – und ist somit so etwas wie die kleine Schwester von Marrakesch, das rund zehnmal so groß ist. Wobei Essaouira am Meer und nicht in den Bergen liegt, und deutlich weniger touristisch, weniger hektisch und laut ist. Neben seinem berberisch-arabischen Charakter hat die Stadt am Atlantik durchaus einen europäisch-mediterranen Touch und wird wegen seiner weiß gestrichenen Häuser auch die „weiße Stadt" genannt. Das hat mit den Portugiesen zu tun, die hier im 15. Jahrhundert eine Festung aufgebaut und die Stadt zu einem west-östlichen Handelsknoten gemacht haben. Ein Dutzend Kanonen an der Stadtmauer erinnern noch an die Zeit der portugiesischen Herrschaft.

Linear angelegt

Arabische Medinas sind fast immer verwinkelt, oft geradezu labyrinthisch. Nicht so Essaouira, das von einem französischen Stadtplaner entworfen worden ist, der schnurgerade Hauptstraßen einplante. So ist es relativ leicht, sich zu orientieren, wenn man innerhalb der Stadtmauern die Gassen mit den vielen kleinen Geschäften und Restaurants erkunden will.

Mitten in der Medina, am Ende der zentralen Avenue de l'Istiqal, liegt der Souk Jedid, der zentrale Markt. In den kleinen unter Arkaden befindlichen Geschäften gibt es viele orientalische Spezialitäten wie Gewürze, Kräuter, üppiges Gemüse. Aber auch Gewöhnungsbedürftiges wie bereits länger in der Hitze hängende Hammelköpfe – und lebende Tiere. Letztere warten in kleinen Käfigen auf Käufer, eng zusammengepfercht, was unsere Kinder dazu veranlasst, sofort einige kaufen zu wollen, um sie zu retten und nach Österreich als Haustier mitzunehmen.

Überall in der Stadt wird auch eine andere Besonderheit verkauft: Arganöl, das aus den Früchten des Arganbaumes gepresst wird, der nur in der Region um Essaouira wächst. Dieses feine Öl wird vor allem für Körperpflege verwendet und fast nur in Frauenkooperativen produziert. Unweit der Stadt gibt es mehrere Plätze, wo man den Frauen bei der aufwendigen Ölproduktion genauer zusehen kann.

Einige Hundert Meter nördlich des Souk Jedid befindet sich ein ziemlich verfallener, aber historisch äußerst interessanter Stadtteil: das jüdische Viertel Mellah. Es erinnert den Besucher daran, dass Essaouira einst nicht nur eine blühende west-östliche Handelszentrale am Meer, sondern auch eine Stadt prosperierenden jüdischen Lebens war. Im 19. Jahrhundert lebten hier 40.000 Juden, das entsprach etwa rund der Hälfte der Bevölkerung damals. Obwohl heute nur mehr sehr wenige Juden hier leben, konnte eine kleine Synagoge weitgehend restauriert werden.

Die Hände einer Bauchtänzerin
Die Hände einer Bauchtänzerin(c) Getty Images/iStockphoto (cglow)

Frischer Fang, intensiver Beat

Am südlichen Ende der Stadt schließt an den großen Platz Moulay Hassan der pittoreske Hafen an. Jeden Morgen kehren die Fischer mit ihren blau gestrichenen Booten vom Meer zurück und verkaufen gleich vor Ort ihren Fang. Es ist laut, wenig sauber, Fischgeruch liegt überall in der Luft. Und natürlich lauern auch hier zahllose Möwen auf Beute. Vor dem Eingangstor zum Hafen haben sich mehrere kleine Fischlokale angesiedelt für eine Kundschaft, die frischen Fisch schätzt.

Was Mogador, wie Essaouira vor der Unabhängigkeit genannt wurde, besonders prägt, ist seine kulturelle Atmosphäre. Künstler und Kulturschaffende nicht nur aus Marokko, sondern aus der ganzen Welt zieht es in diese Hafenstadt. Vor allem in den Gassen entlang der Stadtmauer finden sich zahlreiche kleine Galerien mit Gemälden, Fotografien, modernen Skulpturen oder traditionellem Handwerk. Ja und dann ist da noch die ganz spezielle Musik, die die Hafenstadt prägt, die jeden Abend in Lokalen gespielt wird und die aus den Lautsprechern in den Musikläden dröhnt. Es ist der Klang der Gnaoua – einer sehr rhythmusorientierten Musik. Der Name geht zurück auf die Gnaoua (auch Gnawa geschrieben), die Nachfahren von Sklaven aus den Ländern südlich der Sahara, die via Timbuktu nach Essaouira verschleppt und von dort unter grausamen Bedingungen über den Atlantik verschifft wurden. Diese tragischen Erlebnisse fanden in vielen Liedern ihren Ausdruck. Die Musik ist stark perkussiv, wird vor allem mit einer Tbal gespielt, einer Fasstrommel, die mit dem Stock geschlagen wird, sowie mit Langhalslauten (Sintir und Gambri) und, ganz typisch, einer Gefäßklapper aus Metall namens Qarqaba. Zur Musik wird getanzt, und sie erzeugt eine Stimmung der Trance und Ekstase.

Die Gnaoua-Musik beherrscht auch das jährliche Afrika-Musikfestivals – das gerade dieses Wochenende mit vielen Stars aus Nordafrika über die Bühne geht. Beziehungsweise Bühnen, denn ganz Essaouira ist Aufführungsort. Beim Festival geht man über das Traditionelle hinaus. Afrika-Musiker treffen sich hier mit Weltmusikern, zunehmend fließen Funk, Blues und Jazz in die Musik ein. Während des Festivals verwandelt sich die beschauliche Stadt in eine Art Bienenkorb – sie wächst auf das Fünffache der normalen Bevölkerungszahl. Bis zu 500.000 Besucher werden jedes Jahr erwartet, die Straßen und Plätze der Stadt sind voll mit Musikern, Künstlern und Zusehern, überall wird Gnaoua-Musik gespielt. Ein Spektakel aus Klängen und Farben.

Der Passat weht für die Surfer

Essaouira punktet auch mit seiner Lage am Meer – vom Altstadtbummel bis zum Relaxen am Meer sind es nur wenige Minuten. Denn gleich neben dem Hafen beginnt der flach ins Meer führende Strand, ein langer weißer Streifen, der sich kilometerweit den Atlantik entlang erstreckt. Zum Schwimmen ist das Wasser – außer im Hochsommer – zwar etwas zu kühl. Doch die meisten sind wegen der Sonne oder vor allem wegen der Wellen hier und durch wärmende Neoprenanzüge geschützt. Angesichts der fast ständig wehenden Passatwinde, was Essaouira auch den weiteren Beinamen „Stadt der Winde" einbrachte, ist die Küste bis hinunter nach Agadir ein Magnet für Wellenreiter.

Zu den unbedingt empfehlenswerten Abstechern zählt Sidi Kaouki, etwa 20 Kilometer südlich von Essaouira. Ein kleines Dorf, dessen wichtigstes Gebäude am Ortsanfang direkt an den Klippen steht und das Mausoleum eines Marabouts, eines Heiligen, ist. Doch gleich danach gibt es Lokale, kleine Hotels, Geschäfte für Surfausrüstung und Surfschulen. Denn hierher kommt man vor allem wegen der Wellen. Dutzende Surfer in Neoprenanzügen stürzen sich an dem langen Strand in den wilden Atlantik. So mancher Europäer verbringt hier seine Wintermonate.

Am Strand von Sidi Kaouki wird dem Urlauber noch eine andere Aktivität geboten: Reiten. Auf den ersten Blick sehen die Berberpferde etwas verwahrlost und nicht besonders attraktiv aus. Doch als der Reitlehrer herausfindet, dass unsere Kinder gut reiten können, gibt es nur mehr eines: im vollen Galopp den endlosen Strand entlang, während daneben im Wasser die Surfer auf ihren Boards die besten Wellen jagen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2019)

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