EU-Gipfel: Der Brüsseler Klimaschutzunfall

„Hätte mir mehr gewünscht“ – Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein unterstützte ein ambitioniertes EU-Klimaziel bis 2050.
„Hätte mir mehr gewünscht“ – Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein unterstützte ein ambitioniertes EU-Klimaziel bis 2050. (c) REUTERS (FRANCOIS LENOIR)
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Polen, Ungarn, Tschechien und Estland verhinderten eine Gipfelerklärung, die EU bis 2050 emissionsneutral zu machen. Das könnte sich für sie im Ringen um das Unionsbudget rächen.

Brüssel. Die wöchentlichen europaweiten Klimademonstrationen der Jugend und das überraschend starke Abschneiden der Grünen bei der Europawahl Ende Mai mögen ein Signal für den Wunsch vieler Bürger nach engagierterer Klimapolitik sein, doch in Warschau, Prag, Budapest und Tallinn verhallt es ungehört. Die Regierungschefs Polens, Tschechiens, Ungarns und Estlands verhinderten in der Nacht auf Freitag eine zuvor bereits fertig verhandelte gemeinsame Erklärung des EU-Gipfels, wonach die Union bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden soll, sprich: netto keine Treibhausgase mehr ausstoßen solle.

Dieses Vorhaben ist äußert ehrgeizig, denn es würde eine komplette Neuausrichtung sämtlicher wirtschaftlicher Aktivitäten erfordern – von der Industrie über den Verkehr bis zur Landwirtschaft. Die Kommission berechnete anlässlich der Vorstellung eines entsprechenden Vorschlags im November vorigen Jahres, dass zur Erreichung dieser sogenannten Dekarbonisierung binnen dreier Jahrzehnte jährliche Investitionen von 175 Milliarden bis 290 Milliarden Euro in saubere Energietechnologien erforderlich mache. Das wäre bis zu doppelt so viel, wie das jährliche Budget der Union derzeit ausmacht.

Dennoch gewann dieses Ziel samt dem Datum 2050 bemerkenswert rasch an Rückhalt. Beim EU-Gipfel am 22. März war es eine Vierergruppe unter Führung von Frankreichs Präsidenten, Emmanuel Macron, und dem niederländischen Ministerpräsidenten, Mark Rutte. Sechs Wochen später, beim informellen Gipfeltreffen im rumänischen Sibiu/Hermannstadt, zählte die Gruppe der Dekarbonisierer bereits neun. Kurz danach gab Angela Merkel ihren Widerstand auf.

Am Donnerstag, nach stundenlangem Ringen, welches die Diskussion der Besetzung der EU-Führungsämter verzögerte, waren es schließlich 24 der 28, die sich hinter diese Fußnote in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats stellten: „Für eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten muss die Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden.“

Unmittelbar durfte sich Polens Ministerpräsident, Mateusz Morawiecki, an seinem Geburtstag als Sieger fühlen: „Wir haben unsere Interessen sehr stark verteidigt. Polen ist eines jener Länder, das zuerst ein sehr detailliertes Kompensationspaket haben muss. Wir müssen wissen, wie viel wir für Modernisierung bekommen können.“ Doch ob diese Erpressungstaktik gegenüber der klaren Mehrheit der EU funktionieren wird, ist fraglich.

Veto wird zum Bumerang

Denn während für die rechtlich unverbindlichen, wenn auch politisch bedeutsamen Schlussfolgerungen des Europäischen Rats Einstimmigkeit nötig ist, herrscht im Rat, dem Gesetzgebungsgremium der nationalen Regierungen, fast durchwegs das Prinzip der qualifizierten Mehrheit – vor allem in Energiebereich, wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu bedenken gab. Sprich: Die vier Gegner der Dekarbonisierung bis 2050 müssen achtgeben, bei der ab Herbst beginnenden Arbeit an den europäischen Gesetzen, welche zur Erreichung dieses Ziels der 24 erforderlich sind, nicht ständig überstimmt zu werden.

Zum Bumerang könnte das Veto gegen den Klimaschutz auch bei den Verhandlungen über den Budgetrahmen der Jahre 2021 bis 2027 werden. Denn erstens wird in allen Bereichen in den bisherigen vorbereitenden Arbeiten stark in Richtung Klimapolitik umgeschichtet, vor allem in der Landwirtschaft und der Kohäsionspolitik. Zweitens haben sich vor allem Polen und Ungarn mit ihrer Missachtung der Grundwerte und Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit ohnehin schon keine Sympathie bei den westeuropäischen Nettozahlern verschafft; die Verknüpfung der Auszahlung von EU-Förderungen an Rechtsstaatskriterien ist ein erklärtes Ziel von Berlin, Paris, Den Haag und anderen Regierungen. Zwar ist hier Einstimmigkeit erforderlich. Doch angesichts der ökonomischen Notwendigkeit der Milliardenbeträge aus Brüssel für Polen, Ungarn, Tschechien und Estland sitzen diese Länder auf einem sehr kurzen Ast.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2019)

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