Zinzi Clemmons: Trauer schreibt man ohne Kitsch

Zinzi Clemmons gelang 2017 mit „Was verloren geht“ in den USA der Durchbruch.
Zinzi Clemmons gelang 2017 mit „Was verloren geht“ in den USA der Durchbruch.(c) Nina Subin
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Die Mutter stirbt an Krebs, die Tochter wird von ihrem Verlust fortgerissen. Zinzi Clemmons erzählt schnörkellos und fragmentarisch von den Dingen, die uns ausmachen.

„Aish‘ sagte meine Mutter zu ihrem Trifle, ,am schlimmsten ist es, wenn ich aufwache und denke, du musst Mama anrufen und dich mal wieder melden‘.“ In diesem Moment auf der Familienweihnachtsfeier in Johannesburg begreift Thandi plötzlich, „was einem Menschen das Herz brechen konnte“.

Jetzt ist sie es, die nicht mehr anrufen kann. Ihre Mutter ist tot; der Krebs hatte aus der liebevollen, barschen Frau mit Kleidergröße 42 eine bettlägrige, dämmernde Person gemacht, die sie gegen Ende ihres Lebens mühelos in den Rollstuhl heben konnte.

Vor ihrem Verschwinden hat ihre Mutter im Delirium einen Wunsch: Sie will nach Hause zu ihrer Familie, nach Südafrika. An diesem Punkt bricht in Thandi etwas zusammen. Nicht nur, weil es zu spät ist für einen Transatlantikflug. Sondern auch, weil sie selbst diesen Wunsch nie haben wird. Sie, die sich als Heimatlose zwischen allen Welten fühlt.

Zinzi Clemmons mutet ihrem Leser mit „Was verloren geht“ viel zu: Ihre Protagonistin Thandi, deren Leben wir aus der Ich-Perspektive geschildert bekommen, ist eine Waise im doppelten Sinn. „Du bist keine echte Schwarze“, erklären ihr die Mitschüler im noblen Vorort von Philadelphia, wo sie als Tochter einer Südafrikanerin und eines Afroamerikaners mit ihrer karamellfarbenen Haut und den krausen Haaren heraussticht. Auf Sommerurlaub in Südafrika überkommt sie ein Grauen vor der spaltenden Brutalität, die nach Ende der Apartheid unter der Haut der Gesellschaft brodelt. In den USA ist sie für die Klassenkameraden das dunkle Quotenbaby, das auf die Ivy-League-Uni darf. Zwischen den Gesellschaften stehend, wird ihre Mutter für sie zum Anker.

Broschüre für Hinterbliebene. Was tut man, wenn die Kompassnadel für die eigene Identität abbricht? Die Antwort findet sich eher nicht in der Hospiz-Broschüre „Was verloren geht“, die eines Tages in Thandis Postkasten liegt und Hinterbliebenen Ernährungstipps und eine Begriffserklärung für Trauer gibt. Zinzi Clemmons dekliniert Trauer, Verlust und Identität in ihrem Debütroman auf ihre Weise durch: Als Basis dienen ihr die eigenen Tagebucheinträge von 2012, als sie ihr Studium unterbrach, um ihre Mutter mit Krebs im Endstadium zu pflegen. Als der Roman 2017 in den USA erscheint, wird er von den Kritikern gefeiert.

Dabei ist nicht nur das Thema, sondern auch Clemmons Zugang herausfordernd: Wir befinden uns im rastlosen Kopf einer Hinterbliebenen, in dem sich Sequenzen von Thandis Familiengeschichte, Urlauben, Studium und Liebesleben mit Statistiken über die Sterblichkeit schwarzer Frauen, Blogeinträgen zu Rassenbeziehungen in Südafrika und dem Vorwort zu Barack Obamas Autobiografie, „Ein amerikanischer Traum“, abwechseln. Es erinnert an die Gedankensprünge von jemandem, der das Internet nach Ablenkung oder Aufklärung durchkämmt, der sein ins Rutschen geratenes Leben an Zahlen, Daten und fremden Geschichen vertäuen will. Manche Fragmente ergeben Sinn und erweitern die private Geschichte um die gesellschaftliche und politische Komponente. Andere laufen ins Leere. Auf manchen Seiten steht nur ein Satz oder Foto. Der Rest ist weiße Abwesenheit. Ohne Schnörkel, ohne Kitsch. „So sieht die Realität eines Verlusts aus“, sagt Thandi gegen Ende des Romans. Die Aussage hat nichts Hoffnungsloses. Sie klingt optimistisch, fast versöhnlich, dass das Kreiseln um die eigene Person und das, was verloren ging, nicht umsonst sind.

Zinzi Clemmons: "Was verloren geht". Übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann, Ullstein Verlag 240 Seiten, 20 Euro
Zinzi Clemmons: "Was verloren geht". Übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann, Ullstein Verlag 240 Seiten, 20 Euro(c) Ullstein Verlag

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2019)

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