Alibi-Sightseeing

(c) REUTERS (Cathal McNaughton)
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Also ehrlich: Nach Dublin fährt man nur zum Saufen. Es gäbe auch wenig zu sehen. Umso kurioser fällt das Alibi-Sightseeing aus.

Einst reiste man, um sich zu bilden und an der Schönheit von Kunst zu berauschen. Offiziell jedenfalls. Heute schaden auch Shoppen in Mailand oder Schlemmen in Lyon dem Ansehen nicht. Aber wer, abgesehen von sich polternd verabschiedenden Junggesellen, gibt freiwillig zu, dass er seinen Städtetrip durchgesoffen hat?

Dublin ist voll mit Touristen, die einzig diese Absicht hegen, und sie zahlen in den Hotels der irischen Hauptstadt saftige Preise. Dabei unterscheidet sich ihr Sehnsuchtsort, das Irish Pub im Ausgehviertel Temple Bar, vom Beisl daheim nur durch ein, zwei Musikanten, die kläglich falsch fiedeln und singen. Was aber niemandem auffällt, weil das bierselige Publikum viel lauter grölt als sie.

Nun haben selbst hart gesottene Trinktouristen Hemmungen, vor vier am Nachmittag die Theke zu stürmen. Sie müssen ja auch dem zu Hause gebliebenen sozialen Umfeld unverfängliche Fotos vorweisen. Also bringen sie einige Stunden mit Sightseeing rum. Nur gibt es wenig, was des Sehens würdig wäre.

Das Book of Kells? Um einen kurzen Blick auf eine Seite der frühmittelalterlichen Handschrift zu erhaschen, stehen die übernächtigen Massen lange Schlange. Das National Museum? Beglückt mit Moorleichen. Die zu Tode restaurierte Christ Church Cathedral? Verzichtet zur Gänze auf Kunstwerke, prunkt aber mit Tom und Jerry: die mumifizierten Reste einer Katze und einer Ratte, die einst, festgesteckt in einer Orgelpfeife, elend verreckten. Auf diesen Schock braucht man dann eh schon wieder dringend das erste Guinness.

karl.gaulhofer@diepresse.com

Nächste Woche: Gabriel Rath

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2019)

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