Das Jahr, in dem die EU erwachsen wurde

(c) Peter Kufner
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Die Europawahlen im vergangenen Mai haben uns kein völlig verändertes Europa gebracht. Die EU ist fragmentierter und feiner austariert als je zuvor. Aber erstmals wurde so etwas wie eine europäische Wählerschaft sichtbar.

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2019 könnte als das Jahr in die Geschichtsbücher eingehen, in dem die Europäische Union endlich erwachsen wurde. Ein Jahrzehnt lang hat die Gemeinschaft schmerzhaft pubertär über die Wirtschafts- und Finanzkrise und über den Umgang mit Migration gestritten. Die Prognosen für die diesjährige Europawahl am 26. Mai hatten ein düsteres Bild eines möglichen Endes des europäischen Projekts und aufstrebenden Nationalismus heraufbeschworen. Nach der Wahl wissen wir: Aus der EU ist ein politisch mündiges Projekt geworden. Zum ersten Mal wurde eine europäische Wählerschaft sichtbar.

Paradoxer EU-Pessimismus

Im Vorfeld der Wahlen hat die europäische Identität neben der nationalen Identität deutlich an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig konnten Umfragen einen paradoxen EU-Pessimismus bei Wählern feststellen: Obwohl 68 Prozent der Europäer laut Eurobarometer die Mitgliedschaft ihres Heimatlandes in der EU positiv bewerten, hält es eine Mehrzahl der Menschen für möglich, dass die EU in den nächsten 20 Jahren auseinanderfällt. Dieser Zustand der Unsicherheit lässt drei Viertel der EU-Wähler bei Umfragen angeben, dass das politische System auf nationaler, auf europäischer oder auf beiden Ebenen defekt ist. Dieses Gefühl von Unsicherheit lässt die Menschen mehrheitlich angeben, in einer gestressten oder ängstlichen Lebenslage zu sein.

Nationalistische Parteien in Italien und Frankreich bis in die Niederlande haben diese Gemengelage erkannt. Europakritische Parteien reden nicht mehr vom EU-Austritt und schließen sich zu einer internationalen Allianz für ein „Europa des gesunden Menschenverstands“ zusammen – dies mag eine gewisse Kontinuität des europäischen Projekts bedeuten, aber diesmal in ihrer Vision. Auch grüne Parteien und andere progressive Kräfte nutzen die Zukunftsangst und den Wunsch der Menschen nach Veränderung, um dem Protest gegen den Status quo Ausdruck zu verleihen und die Menschen zur Wahl zu bewegen.

Die Debatten über die Europawahl waren in diesem Jahr politischer denn je. Das lag vielleicht daran, dass man auf einer emotionalen Ebene verstanden hat, was die Menschen in Europa bewegt. Trotz der anhaltenden Bedeutung nationaler Fragen in jedem der 28 Mitgliedstaaten zeigten sich Gemeinsamkeiten in der Art und Weise, was die Wähler zur Abstimmung bewegt hat. Letztendlich haben die Wähler gefühlt, dass sie zeigen konnten, welches Europa sie wollen. Das schlug sich in einer deutlich erhöhten Wahlbeteiligung von 51 Prozent nieder.

Une Europe qui protège

In einer Umfrage, die YouGov im Auftrag der europäischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations einen Tag nach der Europawahl in den sechs größten EU-Mitgliedstaaten durchgeführt hat, haben wir nach den größten Bedrohungen gefragt, die die Wähler in ihrer Stimmabgabe beeinflusst haben. Für über 170 Millionen Menschen (43 Prozent der europäischen Wähler) waren der Klimawandel und die Umwelt entscheidend. Ebenso viele Wähler verwiesen auf den Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als ein Thema, das ihre Stimmabgabe motivierte. Das Thema Migration war immerhin noch für 120 Millionen Wähler wichtig (30 Prozent). Die Beweggründe der Wähler proeuropäischer und antieuropäischer Parteien unterschieden sich deutlich. Erstere wurden hauptsächlich von Fragen des Klimawandels (53 Prozent), der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit (47 Prozent) und des Nationalismus (44 Prozent) beeinflusst, während Letztere für Parteien stimmten, deren Themen Einwanderung (52 Prozent) oder Sicherheit und Terrorismusbekämpfung (44 Prozent) lauteten. Die EU-Institutionen sollen ein Europa schaffen, das schützt, „une Europe qui protège“. Doch wie soll dieser Schutz umgesetzt werden? 45 Prozent der Befragten halten „sowohl die nationale als auch die europäische Ebene“ für zuständig. Die zweithöchste Antwort lautet mit 24 Prozent, dass die EU-Zusammenarbeit allein die beste Ebene ist, um diese Bedrohungen zu bekämpfen. Lediglich 22 Prozent der Befragten halten den Nationalstaat allein für besser geeignet.

Viele Ängste, viele Wünsche

Ein Merkmal dieser relativ neuen politischen Landschaft ist, in welcher Vielfalt sich die Ängste und Wünsche der Europäer äußern. Nach diesen Wahlen müssen die EU-Institutionen Wege finden, um auf die Botschaften zu reagieren, die die Wähler ihnen geben, anstatt sich auf die Spaltungen in der EU zu kümmern. Wichtig ist jetzt, die Themen zu bearbeiten, die für Wähler aller Parteien von Bedeutung sind. Dazu gehört der Klimawandel – der nicht nur Wähler grüner Parteien umtreibt. In der bereits erwähnten Nachwahlumfrage sprach sich eine große Mehrheit der Wähler aller Parteien in allen Altersklassen dafür aus, dass die Politik mehr Geld im Kampf gegen den Klimawandel ausgeben muss.

Eine Analyse der Wahlprogramme und Versprechen der Parteien, die bei diesen Wahlen Sitze gewonnen haben, zeigt auch: Die europäischen Wähler haben mehrheitlich für Parteien gestimmt, die sich für eine gerechtere Wirtschaft einsetzen und im Bereich Sicherheit und Verteidigung stärker auf europäischer Ebene zusammenarbeiten wollen. Und ein erheblicher Anteil möchte, dass Europa als globaler Akteur in einem wettbewerbsorientierten internationalen Umfeld auftritt.

Streit über Spitzenkandidaten

Das Jahr 2019 hat uns noch kein völlig verändertes Europa gebracht. Die EU ist fragmentierter und feiner austariert als je zuvor. Die Institutionen müssen den Wunsch der Wähler nach Veränderungen noch verdauen. Der Streit zwischen den politischen Familien über den Spitzenkandidatenprozess zeigt, dass der Weg zu einer anderen EU, die den Wählern das Gefühl gibt, gehört zu werden, noch lang ist.

Aber die Optimisten in Europa – und das ist immerhin die drittgrößte Gruppe der Wähler hinter den Gestressten und den Ängstlichen – können hoffen, dass wir in zehn Jahren zurückblicken und feststellen, dass 2019 das Jahr war, in dem die EU einen neuen Weg eingeschlagen hat.

Der European Council on Foreign Relations (ECFR) ist eine Denkfabrik, die Analysen zu Themen europäischer Außenpolitik bereitstellt. Gegründet wurde er von 50 prominenten Europäern, darunter ehemalige Regierungschefs und Minister, Parlamentarier und Intellektuelle, die sich für eine starke Rolle Europas in der Welt einsetzen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Die Autorin

Susi Dennison (geboren 1980) ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations und Leiterin des European-Power-Programms des ECFR. Zu ihren Schwerpunktthemen zählen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Justiz sowie die Reaktion der EU auf die Flüchtlingskrise 2015.

Derzeit versucht sie mit dem Projekt „Unlock Europe's Majority“, das Aufkommen antieuropäischer Strömungen zurückzudrängen. Sie hat vier Berichte für dieses Projekt mitverfasst, zu Themen wie der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, der Zerstörung von Wahlmythen sowie der Gefühle und Emotionen der Wähler vor den Wahlen 2019.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2019)

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